Weltbühne, 20 Jg., H. 31, 31. Juli 1924, S. 188–190
Der Eine liest die ›Woche‹, der Andre die ›Weltbühne‹; der Eine liest die ›D.A.Z.‹, der Andre die ›Volkszeitung‹. Und wenn der ständige Leser der ›D.A.Z.‹ wirklich einmal die Volkszeitung zur Hand nimmt, so tut er das cum ira ac studio. Wo es doch so notwendig wäre, mindestens zwei verschieden gerichtete Blätter zu halten. Sobald man (wie ich) statt einer einzigen Zeitung sämtliche verfügbaren Journale, seien sie all-rechts oder all-links, mit der nämlichen »Einstellung« vertilgt (allerdings nicht Tag für Tag, sondern wöchentlich einmal; es genügt vollauf) und vorurteilslos (ich meine: ohne Parteibrille und ohne tendenziöse Scheuklappen) zur gründlichen Kenntnis nimmt, erzieht man sich zum idealen Unpolitiker, zum vergnügten Nichtpolitiker, zum politischen Idioten. Darum bin ich stets betrübt, wenn ich etwas für die ›Weltbühne‹ schreibe. Ich schriebe es am liebsten gar nicht nieder. Ich weiß von vorn herein, daß es von den Lesern der ›Weltbühne‹ gelesen werden wird. Und das sind zu 95 Prozent meinesgleichen. Oder richtiger: wir Leser und Mitarbeiter der ›Weltbühne‹ sind vom selben Holz.
Ein alter Lieblingsplan (von mir) ist es, die Leser auszutauschen und beispielsweise die Abonnenten der ›Woche‹ (denen Tut-ench-amun mehr oder minder zum Hals heraushängt) zur regelmäßigen Lektüre von ›Sichel und Hammer‹ zu zwingen. Die Leser von ›Sichel und Hammer‹ würden durch die Lektüre der ›Woche‹ nur leichten Schaden nehmen und insonderheit bei Genuß der Romanfortsetzungen (ich bitte das harte Wort »etzungen« zu entschuldigen) zwerchfellistische Störungen erleiden. Die Leser der ›Woche‹ hingegen würden ihren Horizont, sofern möglich, in dankenswerter Weise erweitern und Diverses hinzulernen, wovor sie gemeinhin die Äuglein zusammenkneipen.
Es ist so schade, daß jegliches Blatt immer von Denen, gelesen wird, die es schreiben konnten, wenn sie schreiben könnten. Darauf beruht die Wirkung gewisser Schmöker (deren Wirkung nur scheinbar ist): sie werden von denjenigen Menschen verschlungen, die – vorausgesetzt daß sie Schreibende wären statt Lesende – akkurat so schreiben würden, wie das Buch geschrieben ist. In der Tram mache ich mir oft den Spaß, die Namen (zum mindesten die Vornamen) der mir gegenüber sitzenden Personen zu erraten Neuerdings hab ich mir angewöhnt, ihre Leib- und Magenblätter zu erraten. Es ist nicht schwer. Manche riechen schon von weitem nach ›Lokalanzeiger‹ oder ›Süddeutschen Monatsheften‹, manche tragen, den ›Kladderadatsch‹ auf der Stirn. Ich habe mich, wie gesagt, keineswegs auf bestimmte Journale festgelegt, sondern lese Rechtes, Mittleres und Linkes mit gleicher Andacht. Kürzlich nun, als ich von Frankfurtmain gen Hamburg dampfte, nahm ich einen ganzen Packen Zeitungen und Zeitschriften mit ins Abteil: Lachen links, Jugend, Fliegende, Fridericus, Die ohne, Reigen, Junggeselle, Film-Woche, Kreuzzeitung, B.T., B.Z. am Mittag, Leipziger Neueste, Vorwärts und Weltbühne. Dann las ich das Alles, hübsch nach einander. Dann legte ich Alles über mich ins Gepäcknetz. Dann druselte ich ein bißchen ein.
Als ich etwa ein halbes Stündchen gedruselt hatte und schlaftrunken die Augen öffnete, erblickte ich mir gegenüber einen jungen Mann, der den ›Fridericus‹ las und ›Lachen links‹, ›Weltbühne‹ und ›Reigen‹ auf den Knieen liegen hatte. Ich wußte nicht sicher, ob ich mich jetzt freuen mußte. Denn offenbar handelte es sich um einen Menschen, der (gleich mir) tolerant und großzügig dachte und sich nicht genierte, gleichzeitig ›Fridericus‹ und ›Lachen links‹ sich einzuverleiben. Er sah leider wie verhindertes Offizierskasino aus. Wie ein treuer Abonnent des ›Reigen‹ oder des niedlichen Druckerzeugnisses ›Die ohne‹. Doch wer weiß?
Vielleicht war er ein Weltbühnist und hatte den ›Fridericus‹ nur der Kuriosität halber erworben.
Ich brannte mir eine Zigarette an. Dabei fiel mein Blick auf meinen linken Nebenmann. War ich toll? Die Leute lasen ja alle das Gleiche wie ich! Auch der linke Nebenmann meines linken Nebenmannes, also der Dicke am Fenster. Der hatte sich in die ›Leipziger Neuesten‹ vertieft, und vor ihm auf dem Klapptischehen lagen, brüderlich vereint, das ›B.T.‹ und der ›Vorwärts‹; und mein Nebenmann studierte die ›Kreuzzeitung‹, während der ›Junggeselle‹ aus seiner Rocktasche hervorlugte.
Ich rieb die Lider und dachte scheußlich nach. Ein längst gehegter Lieblingswunsch war in Erfüllung gegangen: Meine Nächsten in Jesu Christo hatten ihre Vorurteile abgestreift und lasen Nichtzusammenpassendes in schöner Abgeklärtheit wild durcheinander! Kismet! Kismet hatte mich in dies Abteil gelotst! Hoch Tut-ench-amun und Peter Panter, hoch Borngräber und Michel von Lindenhecken, hoch Karlchen Ettlinger und Graf Westarp, hoch C.F. Holtz und Karl Holtz, hoch ›Vorwärts‹ und meine heißgeliebten ›Leibzjr Neusdn‹!
Was Sie, intelligenter Leser des Vorliegenden, bereits gemerkt haben, merkte ich, der verschlafene und übernächtigte Reisende, erst jetzt, als ich einen Arm nach dem Gepäcknetz streckte, um mich nochmals in den ›Fridericus‹ zu versenken: meine Zeitungen und Zeitschriften waren verschwunden. Aus dem Gepäcknetz verschwunden. In die Hände meiner Coupégenossen verschwunden.
Ich war zornig und hätte am liebsten alle meine Blätter aus den unbefugten Händen gerupft. Zornig war ich weniger über die mir (wohl, weil ich schlief?) verheimlichte Aneignung meiner Journale durch Fremde, als darüber, daß mein Austausch-Traum, kaum effektuiert, schnöde zerronnen war. Zum Glück jedoch fiel mir ein Bild von Bruno Paul ein (aus einem alten Simpel): wo Einer auf einem Hamburg-Amerika-Dampfer erwacht, zu seinem Entsetzen wahrnimmt, daß der Kajütenteilhaber die Zähne mit der fremden Bürste reinigt und, zur Rede gestellt, die Antwort gibt: »Ich dachte, die Zahnbürste gehört zum Schiff!«
Meine Zeitschriften gehörten mitnichten zur Eisenbahn. Ich hätte sie reklamieren sollen. Dann freilich dachte ich mir: Geht der Austausch auch nicht von ihnen selbst aus, so lesen sie dennoch ausnahmsweise einmal Das, was sie sonst nicht tendenzlos zur Hand nehmen. Laß ihnen, was sie haben. Unter Umständen tragen sie einen winzigen Gewinn fürs Leben davon. Der junge Mann mit ›Fridericus‹ und ›Weltbühne‹, mit ›Lachen links‹ und ›Reigen‹ gibt womöglich dermaleinst seine Stupidität auf und endet, von weltbühnelesenden Enkeln umringt, als Verächter von ›Fridericus‹ und ›Reigen‹ ...
Gestern aber, als ich von Hamburg nach Bremen mußte und wiederum einen Stoß verschiedenartiger Zeitungen und Zeitschriften mitnahm und nach beendeter Lektüre beiseite legte und dann ein Nickerchen machen wollte und dicht vor dem Einschlummern von einem finstern Mitteleuropäer gefragt wurde, ob ich gestatte: da gestattete ich nicht, sondern sagte mit wenigen Worten, daß ich triftige Gründe hätte, in Zukunft meine Eisenbahnlektüre Andern zu verweigern. Unlängst (so sprach ich) habe ein Mitreisender, dem ich das republikanische Witzblatt ›Lachen links‹ überließ, seinem Ärger über das Blatt ausgerechnet zu mir Luft geschaffen und dafür das ›Deutsche Wochenblatt‹ in himmlischen Tönen besungen, und derlei Vorkommnissen mich nochmals auszusetzen, verspüre ich keine Lust.
Trotzdem: Wenn Einer von euch, ihr Weltbühnisten, im selben Coupé mit einem stets schlecht rasierten, zur Korpulenz neigenden, bebrillten, scheitellosen, einem katholischen Pfarrer nicht unähnlichen Herrn zusammensitzt, der alle möglichen und unmöglichen Zeitschriften in rauhen Mengen mit sich schleppt und sie nach rascher Lektüre hinwegtut – fragt getrost, ob er gestattet. Weltbühnisten wird er die Gestattung nicht verweigern.