Demokratie

WAHLVERSPRECHEN

Grundrechte

 

 

Demokratie ist ein unschätzbar hohes Gut. Die letzten Jahre haben uns diese Erkenntnis geradezu körperlich erfahren lassen. Allen Ortes spricht man von ihr, hält sie hoch und fingiert, sie existiere ohne jeden Zweifel. Doch ist dem so? Die Autorin untersucht diese Frage ausführlich, unter anderem im Rahmen der Initiative „Recht verständlich – für Demokratie und Meinungsfreiheit“ (1), die sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie eine Neufassung unseres Grundgesetzes gelingen soll, die sich dann Verfassung nennen darf und nun in diesem Essay, der sich mit dem Komplex der Wahlversprechen auseinandersetzt.

Wollen wir dauerhaften Frieden in unserer Gesellschaft installieren, kommen wir am Weg der Partizipation des Volkes nicht vorbei. Am eindeutigsten findet sie ihren Niederschlag in der Form direkter Demokratie. Ist sie nicht gewünscht, bleibt als zweitbeste Alternative, den Willen des Volkes durch Repräsentanten abzubilden. Alter Hut? Nicht wirklich. Was ich im folgenden Text fordere, kommt geflissentlich grundlegend daher. Es lässt die Frage aufkeimen, was die Menschheit eigentlich tut über die Jahrhunderte hinweg. Andererseits mag es manchen dazu geleiten, meine Ideen gedanklich als imperatives Mandat abzuhaken. Lassen Sie mich festhalten: wir haben nicht gründlich genug gelernt aus unserer Vergangenheit. Und tatsächlich: das imperative Mandat darf neu gedacht werden.

In der Frage, welche Änderungen wir an einer neuen Verfassung vornehmen möchten, müssen wir hart mit uns sein. Wir sollten uns nicht daran orientieren, was wir brauchen, um fortan nur halbwegs komfortabel durch unser Leben zu mäandern, wie es für so viele Menschen in unserem Land bis vor drei Jahren möglich war. Lassen Sie uns nicht zum Maßstab machen, was bisher „ganz in Ordnung“ war, sondern gründlich erforschen, wie wir tatsächlich leben möchten.

An die Wurzel

Orientieren wir uns an der Frage, wie wir Individuen als Kollektiv bestmöglich leben können, erlangt die Möglichkeit der Entfaltung jedes Einzelnen entlang seiner Begabungen und persönlichen Werten und dessen, was für ihn ein sinnhaftes Leben ausmacht, Priorität. Wir benötigen den Raum dafür, so wie wir sind, ein Leben führen zu können, das für den Einzelnen gut ist. Wer schon hier bitter auflacht, führt sich seine tiefe Enttäuschung selbst vor Augen.

Ausgehend von der Annahme, dass dauerhafter Frieden im Innen und nach Außen möglich ist, wenn jedes Individuum sich gesehen fühlt und den Raum dafür in Anspruch nehmen kann, sich seinen Anlagen entsprechend entfalten zu können, spricht alles dafür, der Gewährung und dem Schutz eines solchen Raums für alle Individuen und Gemeinschaften Vorrang vor allen weiteren Überlegungen einzuräumen. Klar ist dabei, dass Rücksicht auf die Interessen und Belange aller Individuen genommen wird. Dies ergibt sich von alleine, wie es jede Kindergartengruppe in einer geeigneten Umgebung, im täglichen Tun lernt – ich beobachte und betrachte diese Prozesse unter freiem Himmel im Wald intensiv. Nur, wenn ich Rücksicht auf Belange und Interessen meiner Gefährten und Kollegen nehme, kann ich für mich in Anspruch nehmen und drauf bauen, dass auch mir und meinen Belangen und Interessen gegenüber Rücksicht genommen wird.

Gutes Leben mit Staat

Dies sei die Grundlage der Überlegungen an eine Lebensform, die uns entspricht, damit unser Wohlergehen fördert und auf diese Weise die Voraussetzung für inneren und äußeren Frieden schafft. Soweit man der Meinung ist, Gesellschaften brauchen zu einem guten Leben einen Staat, was, wie jede scheinbar unverrückbare Wahrheit natürlich in Zweifel gezogen werden kann, wie von Horst Stowasser schlüssig nachvollziehbar getan, ist die nächste Frage, wie dieser Staat ausgestaltet werden muss, damit eben jene Freiheit des Einzelnen, sich zu entfalten, möglich wird.

Sie wird gerade möglich, wenn dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben ist, sich an der Gestaltung seiner Lebensrealität zu beteiligen. So einfach! So grundlegend. Dies sahen auch die Gründerväter unseres Grundgesetzes klar vor Augen vor und manifestierten die Staatsform der Demokratie in Art 20 Abs. 1 GG. Sie erlaubt, der Theorie nach, genau das: Teilhabe.

Das Creifelds Rechtswörterbuch, Standardlexikon für den juristischen Gebrauch, definiert den Begriff Demokratie wie folgt – und ich wiederhole hier Basiswissen der Staatskunde, in dem Wissen, dass es uns nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist: Die Demokratie ist eine Staatsform, in der die (1) Staatsgewalt als Gesamtheit dem ganzen Volke zusteht. Das Volk ist Träger des Staatswillens und insofern der Souverän. Es übt den Staatswillen unmittelbar durch Wahlen und Abstimmungen und mittelbar über die Volksvertretung aus. In unserem Fall der repräsentativen Demokratie wird das Volk bei politischen Entscheidungen durch Abgeordnete vertreten. Die Volksvertretung muss aus freien, in bestimmten Abständen wiederkehrenden, Wahlen hervorgehen, an der die Staatsbürger in gleicher Weise teilnehmen können.

(2) Es gilt das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit. Die freie Willensbildung des Volkes setzt voraus, dass die Staatsbürger politische Gleichheit besitzen und dass Meinungen und Gegenmeinungen im politischen Raum sich frei entfalten können. Dies schließt die Möglichkeit einer Opposition ein.

(3) Demokratie ist in aller Regel durch die mehr oder minder stark ausgeprägte Aufgliederung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gekennzeichnet, was man als Gewaltenteilung bezeichnet. Dies unterscheide sie von kommunistischen Regierungsformen, wo es zu keiner Trennung der Gewalten käme.

(4) Man verbindet mit dem Begriff ferner die Anerkennung von Grundrechten und die Verpflichtung zum Sozialstaat.

(5) Aufgrund der Entscheidung in Art 20 GG, die Bundesrepublik als Demokratie ausgestalten zu wollen, muss dem Art 28 I GG die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats im Sinne des GG entsprechen. Deshalb muss das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.

Ich kümmere mich an anderer Stelle darum, die einzelnen Voraussetzungen in ihre kleinsten Einheiten auseinander zu nehmen, um der Frage, wie viel Demokratie wir leben, auf die Spur zu kommen. Hier soll es um Punkt 1 gehen.

Klar ist also: die Staatsgewalt steht dem ganzen Volk zu. Es selbst ist Träger des Staatswillens, also Souverän. Für immer in das Gedächtnis eingebrannt bleiben die wenig unterschwelligen Botschaften der Politik aus den vergangenen drei Jahren: Die neuen Corona-Normalitäts-Regeln galten für das Volk, nicht für die Politik. Der Spieß ist also in der Realität umgedreht: Souverän verhält sich die entscheidende Politik, dem Volk bleibt es, die Entscheidungen der Volksvertretung zu ertragen und wie wir feststellen müssen: zu gehorchen.

Zurück aber zu den Wurzeln der Demokratie: Das Volk ist der Souverän und übt den Staatswillen unmittelbar durch Wahlen und Abstimmungen und mittelbar über die Volksvertretung aus, was wir als repräsentative Demokratie bezeichnen.

Der Wille des Wählers

Ich halte die Demokratie für die beste Staatsform, die ich ersinnen kann, sofern wir einen Staat wünschen und nicht zur kleinteiligen anarchischen Selbstverwaltung übergehen möchten, was neben Herausforderungen bemerkenswerte Vorteile mit sich brächte. Zwar wird die Idee von Demokratie in unserem Land weiter hochgehalten, wie eine Monstranz und dies im Kern ganz zurecht; doch dürfen sich die Instandhaltungsarbeiten an Demokratie, die im Grunde in eine umfassende Restaurierung ebendieser übergehen sollten, nicht im Reden über Demokratie erschöpfen. Eine halbwegs finanziell ausgestattete Fachstelle für Demokratie macht noch keine Demokratie. Wenn allen Ortes politisch-mediale Auseinandersetzungen über die Frage hochkochen, ob ein „selbsternannter Friedensforscher“, wie der schweizer Historiker Daniele Ganser in der Zwischenzeit öffentlich bezeichnet wird, nun seine Vorträge halten darf oder nicht, sind die Alarmglocken in puncto gelebter Demokratie auch nachts nicht mehr zu überhören. Frei nach dem Motto „Was macht schon so ein bisschen Meinungsfreiheit, wenn man der „falschen Meinung“ auch einfach die Bühne verweigern könnte?“, scheint zu viel Demokratie zu wagen, bereits vermessen. Sollte uns unsere Menschenwürde heilig sein, gibt es keine Alternative dazu, uns für wirkliche Demokratie stark zu machen.

Auch die repräsentative Demokratie aber bringt in der Lebenswirklichkeit, wie wir endlich festhalten sollten, nicht den Wählerwillen im Sinne der Staatsgewalt des Volkes in Entfaltung, sondern Partikularinteressen so weniger Individuen, dass das Missverhältnis offensichtlich wird. Aus diesem Grund ist klar, dass wir in einer neuen Initiative nur ein solches System schaffen sollten, das den Wählerwillen zur Entfaltung bringt. Dies gelingt einerseits über den Weg direkter Demokratie. Keines der je vorgebrachten Argumente zur Diskreditierung direkter Demokratie, sei es aufgrund fehlender Expertise der abstimmenden Bürger, noch an administrativer Umsetzungsmöglichkeit, verfängt. Wer mag daran zweifeln – nach der Erfahrung der letzten Jahre, in der nicht einmal von Amts wegen zur alles entscheidenden Sachlage ermittelt wurde und Demokratie und Rechtsstaat es so dringend verlangt hätten. Fehlende Expertise kann nach diesen Erfahrungen als Argument schlichtweg nicht mehr bedient werden. Wo technische Hürden bestehen, dürfen diese in Kürze überwunden werden.

Die zweitbeste Alternative zur Implementierung direkter Demokratie liegt in eine Neubetrachtung des repräsentativen Elements, damit ein passenderes gefunden werden kann.

Repräsentative Demokratie neu gedacht

Wenn Politiker hoher Ämter öffentlich bekunden können, dass der Wählerwille ihnen nicht Maßstab für ihr politisches Handeln ist , wird endlich offenbar, wie dramatisch es um unsere Demokratie steht. Das ist gut, weil erst mit schonungsloser Erkenntnis der Boden für neue Wünsche und Initiativen bereitet ist.

Wenn heute Parteien und einzelne Mandatsträger Parteiprogramme vorstellen und sogenannte Wahlversprechen abgegeben und diese nach der Wahl nicht umgesetzt werden, stellen sich einige Fragen. Einerseits die danach, was hier passiert und andererseits, welche Konsequenzen diese Vorgänge haben oder haben dürften. Wer nämlich zur Wahl geht, um seinen Beitrag zur Demokratie zu leisten, tut dies in der, wenn auch leider nicht begründeten, aber berechtigten Hoffnung, dass das von der gewählten Partei veröffentlichte Programm in der folgenden Legislaturperiode umgesetzt wird. Bestünde diese Annahme nicht, gäbe es weder einen gewichtigen Anlass, Wähler in großen Mengen zur Wahl zu bewegen, noch einen Anlass für den Wähler selbst, zur Wahl zu gehen. Denn genau dieser Wahlakt drückt der Theorie entsprechend, den in einer repräsentativen Demokratie leistbaren Teil des Volksteils aus, als Träger des Staatswillens, diesen zum Ausdruck zu bringen und damit seine Souveränität auszuüben.

Lassen Sie uns nicht unbeachtet lassen, dass bereits heute der Anteil der Nichtwähler alle anderen Wählergruppen überragt: 14,3 Millionen Menschen haben bei der Bundestagswahl 2021 nicht gewählt, während 9,2 Millionen Menschen für die stärkste Partei der SPD gestimmt haben. Bestünde das angebliche Demokratie-Legitimations-Problem an dieser Stelle, hätten wir es längst.

Fragen Sie einmal ihre Freunde, Kollegen und die Familie, wie groß der Teil umgesetzter Wahlverspechen deren Einschätzung nach ist. Meine Befragungen zeigen eine konstante Einschätzung von nicht mehr als dreißig Prozent, die meisten Menschen vermuten einen Anteil von zehn bis zwanzig Prozent. Dennoch empfinden die Menschen diese Tatsache als nicht weiter bekümmernd, ich erlebe kein großes Aufheben – diese Vorgänge werden eben hingenommen. Neben den subjektiven Einschätzungen können wir mittlerweile auf Untersuchungen zurückgreifen, die auf wenig erstaunliche Weise zu einem ähnlich beklagenswerten Ergebnis kommen. Den Erhebungen des Democracy Blogs des Vereins Democracy Deutschland e.V. entsprechend, das Ergebnisse der Democracy App auswertet, zeigt sich ein sehr deutlicher Hang der Parteien dazu, ihre Wahlversprechen nicht nur nicht umzusetzen, sondern die Tendenz, sie in ihr Gegenteil zu verkehren, indem für das genaue Gegenteil dessen gestimmt wird, was versprochen wurde . Doch selbst ohne diese Auswertungen wird das Nichteinhalten von Parteiprogrammen mittlerweile so deutlich, dass es nicht mehr klein zu reden ist: Das letzte Mal ab 2020 und nun wieder in der Frage von Waffenlieferungen und der Haltung zum russisch-ukrainischen Krieg.

Abgesehen von weiteren schwerwiegenden Problemen im Zusammenhang mit den Tatbestandsvoraussetzungen von Demokratie, die sich im Zuge des Zustandekommens der Corona-Verordnungen ergab, die aufgrund ihrer Dringlichkeit an anderer Stelle erörtert werden, ist der Umstand für sich genommen höchst problematisch, dass Parteien, die sich historisch und öffentlich für eine freiheitliche Politik einsetzen, plötzlich in keiner Weise freiheitlich verhielten. Vielmehr gestalteten und trugen sie eine Politik mit, die der Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft im gröbsten Maße zuwiderlief. Obwohl die alles zu verantwortenden Hinweise auf die Expertise und den Primat des Robert-Koch-Instituts zu keinem Zeitpunkt verfangen konnten, ist die Sachlage noch erheblich klarer, wenn wir den Fall der GRÜNEN in der aktuellen politischen Debatte betrachten, die mehr an eine Scheindebatte, als eine echte Auseinandersetzung erinnert. Diese Partei, die sich historisch klar für Frieden, gegen Waffenlieferungen und Unterstützung kriegerischer Handlungen positionierte und geradezu aus diesen Motiven gegründet wurde, vollzog nun – auch nach der fragwürdigen Beteiligung am Kosovo- und Afghanistan-Krieg – eine Kehrtwende, in der nicht nur Waffenlieferungen gefordert, unterstützt und verantwortet werden, sondern auch eine friedenliebende, pazifistische Haltung abgewertet und diffamiert wird.

Bindung der Parteien an Parteiprogramm und Wahlversprechen?

Fraglich ist, welche Konsequenzen aus diesem Vorgang entstehen. In einer Orientierung am Zivilrecht könnte man sich die Frage stellen, ob die Nichteinhaltung eines Parteiprogramms einer Störung der Geschäftsgrundlage gleichkommt. Gemäß Paragraf 313 BGB kann bei fehlender Zumutbarkeit zum Festhalten am unveränderten Vertrag die Anpassung des Vertrags verlangt werden, wenn sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten. Sprich: unter dem Strich kann das Schuldverhältnis aufgelöst werden, wenn die Basis für das gemeinsame Geschäft nach dem Vertragsschluss weggefallen ist. Von solch einem Wegfall, respektive einer Störung der Geschäftsgrundlage könnte gesprochen werden, wenn sich nach dem Wahlakt herausstellt, dass der Repräsentant gar kein Interesse an der Aufrechterhaltung seines Wahlversprechens (mehr) besitzt.

Wir alle wissen: derartige Konsequenzen sind im skizzierten Fall nicht vorgesehen. Mandatsträger bleiben weiter Mandatsträger, sie erlassen Gesetze, die sie nicht zu erlassen angekündigt haben und schaffen Voraussetzungen, die nicht dem Wählerwillen entsprechen.

In der Innenwirkung allerdings treten Konsequenzen auf und zwar massive. Wenn der Wählerwille nämlich regelmäßig missachtet wird, hat dies, wie auch offenkundig, Einfluss auf das Wählerverhalten. Dieses nämlich wird sich, in der abschließenden Erkenntnis, dass die systematische Nichtbeachtung des Wählerwillens nicht an Parteicouleur gebunden ist, sondern ein repräsentativ-demokratisches Prinzip zu sein scheint, in sinkenden Wahlbeteiligungen niederschlagen, was laut offizieller Darstellung das entscheidende Problem demokratischer Legitimation der Politik darstellen solle.

In Wirklichkeit liegt das Problem der Legitimation tiefer. Bei regelmäßiger Missachtung des Wählerwillens, der den Willen des Volkes ausdrückt und damit Volkssouveränität darstellt, stellt sich die Frage, inwieweit das repräsentative Demokratieprinzip grundsätzlich in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn ein wesentliches Element von Demokratie keinen Ausdruck findet, ist fraglich, wie viel Demokratie existiert.

Genügen fünfzig Prozent gelebter Demokratie-Anteile? Reichen dreißig? Wie viel Prozent demokratischer Elemente wirken konstituierend auf eine Demokratie? Im Hinblick auf unsere kritische Betrachtung anderer Staaten, die sich selbst, wie auch der Unsere, als demokratisch bezeichnet, kann uns deutlich werden, welchen Maßstab wir tatsächlich ansetzen: fehlen auch nur gewisse Elemente demokratischer Voraussetzungen, halten wird den betreffenden Staat für nicht durchwegs demokratisch. Daraus lässt sich ableiten, dass wir die Erfüllung aller Tatbestandsvoraussetzungen erwarten müssen, damit wir sicher gehen können, auch wirklich in einer Demokratie zu leben.

Juristische Betrachtung des Wahlversprechens

Deswegen stellt sich die Frage, wie das Element des Wahlversprechens juristisch eingeordnet werden könnte, damit in einer neuen Verfassung dem Prinzip der Volkssouveränität Genüge getan werden kann.

Faktisch können wir also festhalten, dass Abgeordnete nicht an ihr Wahlprogramm gebunden sind. Scheinbar entsteht zwischen Wähler und Abgeordneten kein Vertrag, der mit Annahme durch den Wählenden in der Wahlurne angenommen wird.

Wer in einem gegenseitigen Schuldverhältnis im Kauf-, Dienstvertrags- oder Werkvertragsrecht mit dem Vertragspartner zu einer Einigung über einen Verhandlungsgegenstand kommt, erwirbt Anspruch auf Erfüllung. Wird er in ihr nicht befriedigt, stehen Ersatzansprüche zur Verfügung – je nach konkreter Sachlage auf Nacherfüllung, Ersatz der Aufwendungen, die bei der selbsttätigen Beseitigung entstanden, Schadenersatz, Minderung oder Rücktritt vom Vertrag. Dies findet jeder nachvollziehbar und stimmig. Stünden diese Rechte dem vom Sach- oder Rechtsmangel Betroffenen nicht zu und müsste der Geschädigte es folglich eben hinnehmen, dass sein Schuldverhältnis einseitig nicht erfüllt wird, löste dieses Ergebnis auf Basis eines dem Menschen innewohnenden Gerechtigkeitsgefühls beträchtliches Unbehagen aus und man könnte sich ausmalen, dass der Rechtsfrieden und schließlich der tatsächliche Frieden unter den Menschen sich bald in Unfrieden verwandeln würde.

Machen wir es plastisch – nicht weil ich Sie für zu wenig phantasievoll halte, sondern weil die Analogie auf Staatsebene uns bis heute kalt lässt, obwohl sie für unsere Demokratie eine höchst bedauernswerte Angelegenheit darstellt:

Bestelle ich bei meinem hiesigen Autohändler einen roten Fünfer-BMW mit Lenkradheizung und gewisse Herzen höher schlagen lassende, noble Radkappen und erhalte nach gehöriger Wartezeit einen roten Dreier-BMW ohne Räderschmuckwerk, wird das oben genannte Ansprüche auslösen. Klarer Fall.

In der Materie der Frage nicht umgesetzter Parteiprogramme liegt der Fall in der Zwischenzeit allerdings dramatischer. Wenn ich, wie dargestellt, eine liberale Partei wähle und die Kastration des Grundgesetzes erhalte, ist das, was ich bekomme, in einem bildhaften Vergleich weniger, als nur die falsche Motorenausstattung und das Fehlen der Details für Herz und Fingerspitzen. Ohne konkret einen passenden Vergleich auszugestalten, möchte ich gleich auf das noch deutlichere Beispiel eingehen, mit dem wir es aktuell zu tun haben.

Wenn ich als friedensliebender Mensch diejenige Partei wähle, die sich prinzipiell gegen Kriegshandlungen stark macht und nicht nur Krieg bekomme – jedenfalls in europäischer Nähe – sondern stattdessen ihre Glorifizierung inklusive Abwertung und Stigmatisierung meiner weiteren Friedenanstrengungen, ist das in etwa, als erhalte ich von meinem Autohändler nach sauberer Bestellaufgabe einen abgewetzten Teppich, mit dem ich künftig zu meinen Zielorten fliegen solle. Wenn ich dann anmerke, dass ich a) einen BMW mit genau definierter Ausstattung erhalten möchte und mich b) zum Fliegen im Schneidersitz nicht imstande fühlte, bekäme ich als Antwort von meinem Autohändler, das Klima würde es mir ohnehin danken.

Ich kann mir unglaublich schwer vorstellen, dass Sie dann mit einem „na gut, so ist es eben“, wieder nach Hause gehen und im nächsten Quartal neuerlich eine Bestellung beim Autohändler aufgeben. Leicht können Sie nun einwerfen, es bestünde ein entscheidender Unterschied zwischen dem Einsatz eines Kreuzes in der Wahlurne, wenn auch bitter erlaufen an einem Sonntag, der anderweitig mehr Vergnügen eingebracht hätte, und dem Einsatz großer Summen an Währung in Euro und ein Vergleich sei daher ausgeschlossen. Dem trete ich entgegen.

Denn der Einsatz ist eben nicht nur das kleine Kreuz am Sonntag, sondern die Demokratie im Ganzen.

Wenn ich nun aber, weil in keinem gegenseitigen Schuldverhältnis stehend, wie es im Verhältnis Abgeordneter-Wähler unglücklicherweise der Fall ist, meine Ersatzansprüche nicht geltend machen kann, meinen Teil aber geleistet habe, stehe ich ziemlich im Regen. Das ist nicht nur ärgerlich, weil ich bei stetiger Wiederholung solcher Gegebenheiten vermutlich aufgeben werde, zu versuchen, meine souveräne Teilhabe auszuüben, sondern es ergibt sich ein viel fundamentaleres, weil staatstheoretisches Problem.

Wird die Nichtumsetzung von Wahlprogrammen und politischer Ansagen über Auftritte und Medien zur Übung, kann eben nicht mehr von Repräsentation des Wählerwillens die Rede sein. Wird er aber über einen langen Zeitraum und systematisch nicht repräsentiert, fehlt es an einem wesentlichen Punkt, der Demokratie konstituiert.

Soweit wir der Meinung sind, alle Merkmale von Demokratie müssten erfüllt sein, damit Demokratie existiert, haben wir an dieser Stelle bereits eine schwere Diagnose zu erheben: Demokratie existiert nicht. Da ich mir bildhaft vorstellen kann, wie Sie sich nun winden und zusehen möchten, von hier fort zu kommen (vom Bildschirm, nicht aus dem Land – das wäre ad hoc zu aufwendig und unter dem Strich mit gröberer Anstrengung verbunden), mache ich es Ihnen ein wenig leichter: Demokratie existiert nicht „vollumfänglich“, das können Sie zunächst besser verdauen. Fingieren wir eben, ein bisschen Demokratie mache auch schon Demokratie. Ein bisschen Wohlwollen in unserer Kritik – für das gute Gefühl.

Selbst diesen geringeren Mangel gilt es aufzulösen!

Freies Mandat und Wählerwille

Grundlegende Hinweise darauf, dass der Wähler die Umsetzung seiner gewählten Programme erwarten darf, finden wir bereits in Art 38 Abs. 1 GG. Ihm zufolge sind Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Gemäß Bundesverfassungsgericht steht den Abgeordneten allein bezüglich des „Wie“ der Repräsentation ein freies Ermessen zu, nicht hingegen bezüglich des „Ob“ . Vertreten muss der Mandatsträger also. Gerade auf das „Wie“ kommt es jedoch an, wie wir bei unseren Überlegungen zu den Voraussetzungen repräsentativer Demokratie festgestellt haben.

Aus Art 38 Abs. 1 GG wird heute das sogenannte freie Mandat abgeleitet. Gemäß Deutschem Bundestag bedeutet dieses freie Mandat, „dass die Abgeordneten bei der Ausübung dieses Amtes nicht an Weisungen gebunden sind (…)“. „Das Gegenteil des freien Mandats ist das imperative Mandat, das die Abgeordneten an den Willen der Wählerschaft oder an Weisungen der Partei oder der Fraktion bindet. “ Dieses freie Mandat sei eine Regelung zum Schutz des einzelnen Abgeordneten, um seine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit als Volksvertreter zu gewährleisten. Art. 38 Absatz 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG verbiete jedes imperative, rahmengebundene oder parteibezogene Mandat, da der Abgeordnete ja gerade Vertreter des ganzen Volkes und nicht nur einer Partei sei.

So weit, so richtig. Fraglich ist aber doch gerade, was es bedeutet, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“ zu sein. Denn wenn der Artikel Abgeordnete als Vertreter des ganzen Volkes bezeichnet, ist es unsinnig anzunehmen, er solle frei vom Willen des Volkes agieren. Mit Aufträgen und Weisungen müssen vielmehr solche Aufträge und Weisungen gemeint sein, die einerseits von der Partei oder von außen, durch einflusssuchende Unternehmen und Organisationen, ausgehen. Seitens der Partei kennen wir die sogenannte Fraktionsdisziplin, die es durchaus erlaubt , mit dem Verlust eines künftigen sicheren Listenplatzes zu drohen – einer objektiv meist zuverlässigen Handhabe seitens der Partei, um den Mandatsträger zur Räson zu bringen, weil sie auf einer subjektiv offenbar ausreichend schmerzhaften Drohung beruht, kann sie doch die gewählte Karriere jäh beenden. Dass Verbände und Organisationen beständig Einfluss auf die Entscheidungen der Abgeordneten nehmen, hinter denen zum Ende hin recherchiert, einige wenige kapitale Unternehmen stehen , ist kein Geheimnis, nicht einmal mehr für diejenigen, denen diese Tatsache besonders wenig gefällt.

Wikipedia konkretisiert den Unterschied des freien zum imperativen Mandat: Abgeordnete mit imperativem Mandat seien viel stärker von ihren Wählern abhängig, so hält es zwar eine Tatsache fest, aber doch eine, die uns aufhorchen lässt: Na, hoppla, vom Wählerwillen abhängig? Das ist ja genau in unserem Sinn.

Ist dieser Text nun also ein Plädoyer für die Installierung imperativer Mandate? Betrachten wir diese genauer. Gekannt werden Imperative Mandate aus der Räterepublik, die uns stets mit einem Unterton präsentiert wird, der erahnen lässt, dass man diese Epoche gerne unter den Begriff eines „historischen Fehlgriffs“ subsummieren möchte. Die sogenannte französische und internationale Arbeiterbewegung zog aus den Erfahrungen der Rätedemokratie die Lehre, dass es ohne imperatives Mandat keine echte Republik geben könne. Wir stehen also gewiss nicht das erste Mal vor einem demokratischen Scherbenhaufen.

Bei einem Imperativen Mandat also, wäre der gewählte Mandatsträger an den Auftrag des Wählers gebunden, der im selbstdefinierten Wahlprogramm bestünde. Jedes Wahlversprechen wäre damit in die Gesetzesrealität zu überführen. Wie kann das in der Praxis funktionieren, wenn unterschiedliche Wahlprogramme gegensätzliche Absichten erklären? Der Logik nach muss es darauf ankommen, dass der gewählte Abgeordnete die durch den Wahlakt seitens des Wählers bindend gewordene Absicht aus dem Wahlprogramm in das Plenum einbringt und seine Stimme dafür abgibt. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag bestimmen das Ergebnis. Wesentlich ist dabei, dass die Mandatsträger sich nicht mit Hinweis auf ihr freies Mandat aus der Bindung stehlen.

Mein Vorschlag ist die Einberufung eines unabhängigen, aus Bürgern bestehenden Gremiums, das nach jedem neuen Jahr die Fortschritte der Umsetzungen überprüft. Sind weniger als achtzig Prozent der Programmpunkte, deren Umsetzung in gleichmäßige Legislaturperioden-Abschnitte festzulegen ist, umgesetzt, wird er seines Amtes enthoben und hat aus seinem persönlichen Vermögen gemäß einem Schadensersatzkatalog, Schadenersatz an die Staatskasse zu leisten.

Umsetzung der Wahlversprechen gemäß Treu und Glauben

Eine Bindung des Mandatsträgers an seine eigenen Versprechen, darf bereits analog des Rechtsgedankens der Leistung nach Treu und Glauben im Sinne des Paragraphen 242 BGB angenommen werden und ist das notwendige Mittel, um dem repräsentativen Element unserer Demokratie gerecht zu werden. Engagierte Menschen, die der Gesellschaft zu dauerhaftem Frieden und Wohlstand verhelfen möchten, werden auf diese Weise rasch diejenigen Politiker ersetzen, die es sich bequem in ihren Posten eingerichtet haben und weniger das Gemeinwohl im Fokus haben. Frieden nach innen und außen kann sich erstmalig vorsichtig ausbreiten.

 

Erstveröffentlichung im NACHHALL Nr. 35 https://nachhall.net/dwg01