Tagebuch

SCHREIBEN

Lebenskunst

 

 

Damals im 12. Jahrhundert loderten Konflikte allüberall im grünen Herzen Italiens. Man zankte sich mit der zentralistischen Macht des deutschen Kaisers jenseits der Alpen. Die örtlichen Gesellschaften waren zerrissen zwischen alteingesessenen, reichen Adligen und den aggressiven Emporkömmlingen eines sich etablierenden Bürgertums. Die Armen zählten eh‘ nicht. Der jeweilige Papst und sein Gefolge schwankten mal hierhin, mal dorthin, je nachdem, wo die Interessen gerade lagen. Konflikte gab es zwischen Stadt und Land sowie den Kommunen und den feudalen Trutzburgen, wo die Statthalter der internationalen Macht residierten. Eine dieser Festungen befand sich gleich oberhalb von Assisi mit fabelhaftem Ausblick auf das umbrische Tal darunter. Dort waltete Konrad von Lützen, den die Leute „Fliegenhirn“ nannten. Als er 1189 einmal außer Burgs war, stürmte das Volk die Rocca (Festung). Es hatte sich wohl viel Wut angestaut. Wer es sich leisten konnte, löste Konflikte mit Gewalt. Oder wer nicht mehr anders konnte. Damals.

Achtzig Prozent der Bevölkerung lebte in bitterer Armut. Nicht so Francesco, den die Mutter eigentlich Giovanni hatte nennen wollen. Sein Vater Pietro war ein reicher Tuchhändler aus Assisi. Als der Vater nach einer Geschäftsreise aus Frankreich zurückkam und den neugeborenen Sohn vorfand, benannte er ihn um in „Francesco“. Die Mutter des Kleinen, Pica, hatte Pietro wohl ebenfalls aus Frankreich importiert, weshalb Francesco auch provenzalisch sprach und sang. So wuchs der Junge in der quirligen Stadt am Hang des Monte Subasio auf. Als Jugendlicher schmiss er freudig Parties und gab das Geld des Vaters großzügig aus, ganz wie die Ritter es taten. Ihnen wollte er nacheifern und so nahm er 1202 denn auch an einem Feldzug gegen Perugia teil. Das erträumte Bild von Status und Ruhm erhielt hier jedoch einen ersten Knick, als er in der Schlacht von Collestrada gefangen genommen wurde. In der feindlichen Stadt Perugia, die kalkgrau und porös wie das Leben war, saß er ein Jahr ein, bevor der Vater ihn freikaufte. Zurück in Assisi wurde Francesco krank. So verging ein weiteres Jahr.

Die Bekehrung erfolgte auf leisen Sohlen und mit kleinen Gesten. Hier ein Leprakranker, dem er sich nach anfänglichem Ekel mitleidig zuwandte und ihn umarmte. Dort ein feines Gewand, in das er Fetzen einnähte, was man für den Spleen (verrückte Idee) eines verwöhnten Jungen halten konnte. Von Stoffen verstand Francesco etwas, schließlich war er seit er Vierzehn war im väterlichen Geschäft tätig. Dann tauschte er für einen Tag mit einem Bettler das Hemd. Er wollte erleben, wie es sich anfühlte. Noch hatte er seinen Traum vom Ritter nicht begraben und 1205 schloss er sich einem Apulienfeldzug an. Bald jedoch versagte sein Körper den Dienst. Da träumte ihm eine Stimme: „Willst du dem Herrn dienen oder dem Knecht?“ Vielleicht wurde Francesco bewusst, dass er einem Surrogat von Leben hinterherlief. Inwendig mag die Erschütterung enorm gewesen sein.

Zurück in Assisi sprach in der Kirche San Damiano der Christus vom Kreuz zu dem Suchenden: „Geh und bau mein Haus wieder auf…“ Francesco begriff es wörtlich und bettelte Geld zusammen, um Kirchen zu restaurieren. Dem Vater Pietro war die charakterliche Abschweifung des Sohnes alles andere als recht. Sein Sprössling warf das hart erarbeitete Geld der Familie zum Fenster hinaus und wurde wunderlich. Der innerfamiliäre Konflikt spitzte sich zu, aber der bockige Sohn wollte dem Druck des Vaters nicht nachgeben. Schließlich kam Francesco der drohenden Enterbung zuvor, als er sich auf dem Marktplatz öffentlich seiner Kleider entledigte und metaphorisch in die Obhut der Kirche begab. Es zeigte sich hier sein theatralischer Sinn fürs Konkrete wie fürs Paradoxe.

Christus hatte gesagt: „So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). Erschrocken würden wir heute milder formulieren und von „anderen Prioritäten“ sprechen. Hass meinte den radikalen Anspruch sich umzudrehen und einen neuen Weg zu gehen.

Die einstigen Freunde lachten Francesco aus, als er gemäß dem Evangelium unter und mit den Armen und Ausgestoßenen lebte und ihnen nicht nur gnädig Almosen zuwarf. Seinen ganzen Ehrgeiz legte der Poverello (arme Kerl) nun darein, der Letzte sein zu wollen. Hab- und Machtgier verdarben die Menschheit gleichermaßen und so besetzte er den jeweils entgegengerichteten Pol. Auch nahm er die Dinge wörtlich, wollte das Leben erfahren und nicht bloß so tun als ob. Heute könnte es bedeuten, nicht auf Umweltabzeichen und CO2-Fußabdruck zu schielen, sondern schlicht weniger und lokaler zu konsumieren.

Langsam fanden sich erste Mitbrüder ein, die genauso leben wollten wie Francesco und 1210 ging er zusammen mit zwölf Gefährten nach Rom. Als Papst Innozenz III. das ungewaschene und zerzauste Häuflein sah, welches eine neue Regel approbiert haben wollte, sagte er (so der Chronist Roger Wendover): „Geh und wälz dich mit den Schweinen im Schlamm.“ Francesco tat es, kam zurück und bestand auf der Bestätigung der Regel. Wieder einmal bewies der „Gaukler Gottes“ seinen Sinn fürs Paradoxe und Kontraintuitive und der Papst ließ sich wohl rühren und gab mündlich sein Einverständnis.  

Eigentlich ging das Ganze nicht gut aus für Francesco. Seine eigenen Mitbrüder hatten ihn bereits wenige Jahre später 1220 an den Rand gedrängt. Er verlor sein Amt als Ordensoberer. Beleidigt hätte er den Dienstweg einhalten und sich beim höchsten Vorgesetzten ob dieser Behandlung beschweren können. Er tat es nicht, sondern zog sich einen Monat in die Einsamkeit des Casentino-Tals auf den Berg La Verna zurück. Laverna war einst eine Italische Göttin gewesen, Schutzpatronin der Diebe und Hochstapler. Francesco betete und fastete und als er schließlich zu den Seinen heimkehrte, hatten die Wundmale Christi sich ihm eingeprägt. Er verriet es niemandem und das außergewöhnliche Zeugnis wurde erst nach seinem Tod publik. Als alter Christus (anderer Christus) hatte Francesco seinen tief zerstrittenen Orden damit vor dem Zerfall gerettet und ihm neuen Aufwind gegeben. Bereits zwei Jahre nach seinem Tod 1226 wurde der Poverello heiliggesprochen. Nach außen hin ein riesiger und rasend schneller Erfolg. Francesco selbst legte jedoch andere Maßstäbe an. Einmal hatte er erzählt, ihm sei die „höchste und wahre Freude“ widerfahren, als er nachts bei Schneetreiben nach Assisi zurückkehrte und die Mitbrüder ihn nicht einließen: „Geh weg. Du bist ein einfältiger und ungebildeter Mensch. Du kommst auf keinen Fall zu uns. Wir sind so viele und von solcher Art, dass wir dich nicht brauchen“. Dass er damals nicht aus der Haut gefahren sei, sondern sein Schicksal akzeptiert habe, das sei die größte aller Freuden.

*

Leben ist Beziehung zu Dingen, zu Menschen, zu Ereignissen. Zwischen uns und dem anderen baut sich eine Spannung auf, die im allerwörtlichsten Sinne zwischen den Polen zieht. Es geht nicht nur um 0 oder I, Entweder Oder, A oder B. Es geht nicht um Sieger, alternativlose Wahrheiten und auch nicht um eine hegel‘sche Synthese in der Mitte. Vielmehr öffnet das beidseitige Ziehen ein Feld und aus diesem kann Etwas, ein Drittes, auftauchen.

Dasselbe gilt für Worte. Je mehr Sinne ein Wort enthält, desto größer die Möglichkeiten, die ihm innewohnen. Deshalb amputiert man sich selbst, wenn die Sprache eineindeutig gemacht wird, wenn Studentinnen und Studenten Wissen anhäufen und Kapitän*innen und Meerjungmänner in trüben Wassern fischen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Francesco lebte Beziehung. Wenn er etwas als schlecht und schädlich erkannte, begab er sich an den entgegengesetzten Pol. Armut statt Reichtum, Demut statt Ansehen, Letzter statt Erster. Indem er ins Extrem ging, öffnete er das Feld für Neues, das nun möglich wurde. Dabei lebten längst nicht alle Franziskaner die Ideale des Ordensgründers wie Armut - was auch den Verzicht auf Bildung einschloss - oder Demut. Papst Bergoglio, der es in 800 Jahren als erster gewagt hatte den Namen „Francesco“ anzunehmen, machte Franziskaner zu Bischöfen. Was hätte der Poverello, der selbst auf den Vorsitz seines eigenen Ordens verzichtet und Ämter für die Seinen kategorisch abgelehnt hatte, wohl dazu gesagt?

Den Sinn allen Seins projizierte Francesco ins höchste Andere, in Gott. Diesmal zielte seine Spannung vertikal ins Unendliche und machte das Prinzip des Lebens und der Schöpfung, seinen Gott, doch ansprechbar und nachgerade menschlich. Im „Lobpreis Gottes“ dichtete er 1224: „(…) Du bist der Starke. Du bist der Große. Du bist der Erhabenste. Du bist mächtig, du heiliger Vater, König des Himmels und der Erde. Du bist der dreifaltige und eine Herr, Gott aller Götter. Du bist das Gute, jegliches Gut, das höchste Gut, der Herr, der lebendige und wahre Gott. (…)“ Wie ein Derwisch wirbelte Francesco, aber nicht um sich selbst, sondern um den anderen: Du, Du, Du! Er zog sein Gegenüber nicht absichtsvoll in die eigene Richtung. Der, die oder das andere war ihm selbst verwandt und doch nicht mit ihm identisch. Bis in die äußerste Konsequenz und sogar bis zu Sorella Morte (Bruder – eigentlich Schwester aufgrund des weiblichen Artikels im Italienischen - Tod) trat er zum anderen in Beziehung, hob den anderen hervor und nahm sich dabei selbst zurück. Das vermag nur die Liebe, „l’amor che muove il sole e le altre stelle“ wie Dante Alighieri seine „Göttliche Komödie“ schloss. Die Liebe bewegt alles, verändert alles, schöpft die Welt jeden Tag neu.

Francesco ließ sich in die Liebe Gottes fallen und in die Vorsehung. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen“ (Mt 6,26) und doch werden sie von Gott getragen. Er hielt seine Mitbrüder an, für Arbeiten nur so viel Lohn zu nehmen, wie sie für den jeweiligen Tag benötigten. Die göttliche Vorsehung war phantasievoller und findiger als bedenkentragende Sicherheitsfanatiker. Damit das positive Unvorhergesehene in die Welt treten konnte, musste ihm jedoch Raum eröffnet werden. Durch Spannung und Schwingungen schaffen Beziehungen Felder, Räume und letztendlich Tatsachen. Das Tätigsein war für Francesco besonders wichtig. Er hielt seine Mitbrüder an, täglich die einfachsten Arbeiten zu verrichten. Das Studium wollte er nicht, weil es den Menschen vom Wahren wegführte in intellektuelle Labyrinthe und in den Hochmut.

Leiden, oder was als Unbill oder auch Böses kursierte, war damit allerdings nicht aus der Welt. Aber Francesco ging auch auf das Schreckliche zu und umarmte es, bis hin zu „Bruder Tod“. Seinen Sonnengesang „Laudato si‘“ dichtete er, als er mit einem Augenleiden todkrank darniederlag. Zusammen mit der Schöpfung gilt es auch alles Schlechte anzunehmen – in Freude. Freudig, heißt es, war Francesco während der Kriegsgefangenschaft, freudig in Krankheit, freudig als er gedemütigt und verstoßen wurde. Was hat es mit der Freude auf sich, die so fehl am Platze scheint und das größte der francescanischen Paradoxe darstellt? Was für eine Freude ist das? Eine stoische Akzeptanz in sanfter Glut oder ein ekstatisches Feuer? In seiner Enzyklika „Laudato Si‘“ (2015) schrieb Papst Bergoglio: „Die Welt ist mehr als ein zu lösendes Problem, sie ist ein freudiges Geheimnis, das wir mit frohem Lob betrachten.“ Erschöpft Freude sich als lediglich kontemplatives Widerfahrnis oder vermag sie darüber hinaus Ereignisse und Handlungen zu erwirken? Jedenfalls ist sie eine starke Antwort, weil sie allumfassend und strahlend der ängstlichen Logik des Kleinteiligen entflieht und Freiheit und Offenheit empfinden lässt. Darum: Gaudere aude! Wage es, dich zu freuen!

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Vergangene Woche saß ich beim Zahnarzt. Zuerst visualisierte ich den Schmerz, der mir bevorstand, um mich zu wappnen. Es kam so schlimm, wie ich befürchtet hatte - und schlimmer. Spitz und scharf und alles durchdringend, einnehmend und eng war er. Ein hilfloser Moment des Widerstands folgte, meine Hand krallte sich in die Stuhllehne. Doch der Schmerz dauerte an und ich begriff, dass ich durch ihn hindurchmusste und so nahm ich ihn schließlich an. Es tat nicht weniger weh, aber nun war er ein Teil von mir und merkwürdigerweise konnte ich an anderes denken. Francesco kam mir in den Sinn. Was hätte er an meiner Stelle getan? Inmitten der totalen Dunkelheit, die mich umfing, nahm ich plötzlich vor meinem inneren Auge einen kleinen Schimmer wahr. Ein Licht wie von einer Kerze in finsterer, unendlicher Nacht. Ich sah den Schein und empfand Freude, während der Schmerz mir durchs Mark ging und meine Welt ausfüllte. Und über dem Schauen vergaß ich die Pein. „Schon fertig“, lächelte der Weißkittel. Wie aus einem Traum wachte ich auf.

 

Erstveröffentlichung im NACHHALL Nr. 39 https://nachhall.net/aff02