31.3.2020
Lieber ,
weil Du jetzt 11 Jahre alt bist und ich mich erinnere, dass genau dieser 11. Geburtstag im November 1959 für mich ein sehr einschneidendes Datum war. Ich weiß heute gar nicht mehr, ob unsere „Flucht“ vor oder nach dem 22. November war, aber ich habe an die Einzelheiten natürlich noch ziemlich genaue Erinnerungen.
Voriges Jahr habe ich in der Volkshochschule einen „Schreibkurs“ gemacht, das ist eigentlich nichts anderes als ein paar Deutsch-Aufsatz Stunden, nur dass die 6 oder 8 Leute, die da sitzen, alle motiviert sind etwas zu schreiben – sei es ihre Memoiren (also Lebenserinnerungen), sei es, dass sie sich schriftstellerisch betätigen wollen (also Geschichten schreiben für Zeitschriften oder auch ein Buch wie Dein Papa). Die Dozenten (so nennen sich die Lehrenden an der VHS) lassen sich dann diverse Tricks einfallen – wie z. B. eine Geschichte nicht aus der Ich-Perspektive, sondern aus der eines Körperteils zu schreiben.
Mein erster Gedanke bei diesem „Arbeitsauftrag“ war unsere „Republikflucht“. So nannte man das zu Zeiten der deutschen Teilung, wenn die Leute sich illegal aus der „Deutschen Demokratischen Republik“ (Ost) in die „Bundesrepublik Deutschland“ (West) absetzten. Das Wort Flucht hat heute eine härtere Bedeutung, weil man die Bilder der Bootsflüchtlinge im Kopf hat und von den vielen Toten weiß, die Wüste und Meer gefordert haben. Wenn wir damals von der Polizei festgenommen worden wären, hätte das für meinen Vater möglicherweise Gefängnis, für mich eventuell Erziehungsheim bedeutet. Keine schöne Aussicht, aber wir wären am Leben geblieben.
(Ja, an der Mauer in Berlin und an der Stacheldraht-Grenze zur Bundesrepublik gab es nach 1961 viele Tote. Das war schlimm genug, war aber eine andere Situation und hatte lange nicht die Ausmaße von heute.)
Ich schenke Dir also heute diese Geschichte – das ist sicher nicht das, was Du als Geburtstagsgeschenk erwartest. Aber ich kann mich herausreden: alle Geschäfte haben geschlossen. Und immerhin bist Du der erste, der eine Geschichte von mir kriegt.
Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!
Opa
Die Füße erzählen
Eine Geschichte von meinem 11. Geburtstag
So früh schon auf den Beinen. Was hat er denn, der Junge, ist doch Samstag und noch dunkel. Ende November, neblig, kalt – da bleibt man doch lieber im warmen Bett, zumal als Fuß. Aber ich kann ja nicht, ich bin ja sein Fuß – sein Gehirn steuert die Schritte, meine Bewegungen. Mir bleibt nichts, als zu folgen. Außer wenn‘s gar zu anstrengend wird, dann bring ich ihn ins Stolpern.
Irgendetwas ist los heute früh, die Stimmung gedämpft bis gespannt, Vater, Mutter und Schwester sitzen schon am Frühstückstisch, der Junge setzt sich still und aufgeregt dazu. Neben der Tür eine Reisetasche. Wollen sie verreisen? Dann sehe ich nur noch Hausschuhe und Tischbeine und spüre das Kribbeln im Bauch des Jungen.
Auch das noch. Neue Schuhe. Wie kann er mir das nur antun. OK, er wollte es wahrscheinlich gar nicht, aber die Eltern halt. Dabei hab ich gar keine Notwendigkeit dafür gesehen. Und einfach so ohne Anlass. Geburtstag hatte der Junge gerade, und bis Weihnachten ist noch eine Weile. Ich glaube nicht, dass er froh ist über die neuen Schuhe. Er weiß, was ich jetzt zu leiden habe.
Ja, es ist tatsächlich eine Reise, es geht zum Bahnhof. Ich kenne den Weg – es ist ein Feldweg, eine Abkürzung zum „Unteren Bahnhof“ am Rand der Stadt. Nur der Vater ist mit dem Jungen unterwegs, Mutter und Schwester sind zu Hause geblieben. Aber aufgeregt waren die beiden genauso. Eine eigenartige Stimmung beim Verabschieden. Anders, ernster als sonst. Fast ein bisschen so „hoffentlich sehen wir uns wieder“.
Die Zugfahrt zieht sich. Ich habe nichts dagegen, der Weg zum Bahnhof war schlimmer als sonst. Dieses blöde Gerede vom Eintreten der Schuhe. Sollen die Schuhmacher doch die Schuhe gescheit den Füßen anpassen und nicht den Füßen die Arbeit überlassen. Immerhin kann ich mich jetzt erst mal ausruhen. Meinetwegen können wir den ganzen Tag im Zug sitzen. Vielleicht fahren wir wieder an die Ostsee, wie im Sommer? Das wäre schön – den ganzen Tag im Sand und im Wasser. Aber ist es dafür jetzt nicht zu kalt?
Der Zug hält. Kein Bahnhof. Schweigen. Anspannung. Herzklopfen beim Jungen. Der Vater stoisch.
Kontrolle. Männer in Uniform. Polizisten? Grenze? Alle zeigen ihre Ausweise vor. Auch der Vater. Woher? Wohin? In die Hauptstadt? Nein, Oranienburg, Freunde besuchen. Gepäck? Nur Handgepäck, morgen geht’s wieder zurück, arbeiten.
Aufatmen – ich spüre die Veränderungen im Jungen, im Blut, in den Nervenzellen. Das war ein entscheidender Moment, etwas Wichtiges ist passiert und hat Zuversicht ausgelöst. Ich habe sämtliche Druckstellen darüber vergessen.
Wir fahren weiter in die Stadt, Häuserreihen, Straßen, Autos, Bahnhöfe, Gleise über Gleise, kommen in einen großen Bahnhof. Treppe runter, Treppe rauf. Jetzt drücken diese blöden Schuhe wieder. Aber nicht lange, dann sitzen wir wieder in einer Bahn, rot mit gelben Streifen, und holpern durch die Stadt. Hauptsache wir laufen nicht. Mehrere Stationen mit einem großen S. Mein Junge wird wieder nervös. Herzklopfen. Innen zittert er, aber äußerlich bleibt er ganz ruhig! Und still, angespannt.
Auch dieser Zug hält plötzlich auf freier Strecke. Kein Bahnhof. Wieder Uniformierte. Mit durchdringendem Blick laufen sie den Gang entlang, schauen auf die Leute, schauen aufs Gepäck. Einzelne Reisende fordern sie auf auszusteigen. Den Jungen und seinen Vater übersehen sie. Das Ganze dauert nicht länger als ein Aufenthalt an einer Station. Dann spüre ich das Glücksgefühl im Jungen. Das war die Sektorengrenze, sagt der Vater, wir sind durch. Ja, sagt der Junge, ich weiß.
Warum er mir das mit den neuen Schuhen antun musste, hat er mir später erzählt. Geld war für die Bewohner der DDR das geringste Problem. Ordentliche Schuhe gab es in der DDR, also hat man das Geld in Schuhe verwandelt, bevor man in den Westen ging. Ein Ost-Hunderter schrumpfte im Westen auf ein Viertel, war also nur noch 25 Mark wert. Für diesen Hunderter konnte man im Osten 4 oder 5 Paar Schuhe kaufen, im Westen vielleicht eines oder zwei.