dlg02
BUCH
von Timo Rieg
http://www.aleatorische-demokratie.de
biblioviel; 1. Edition (16. August 2013)
Taschenbuch, 254 Seiten
ISBN-13: 978-3938081815
Anmerkungen/Fußnoten:
49. Schon im vordemokratischen Athen setzte man auch auf die „sozialintegrative Kraft [der] Verfahrensneutralität“ und den „Konfliktlösungsmechanismus“ des Losens (Buchstein 2009: 29f).
50. Natürlich stand der Ostrakismos in der Gefahr, für die Verbannung eines politischen oder wirtschaftlichen Konkurrenten missbraucht zu werden.
51. In Deutschland hingegen werden Schöffen nicht, wie oft angenommen bzw. als Beispiel benannt, ausgelost. Zwar muss fast jeder das Amt annehmen, wenn er dazu bestimmt wird, aber aus einer entsprechenden Vorschlagsliste bestimmt ein spezielles Gremium die Schöffen per Wahl (§ 42 Gerichtsverfassungsgesetz).
52. Rau benannte auch das „systematische Manko“ dieses Partizipationsverfahrens: „Hinter ihr [der Planungszelle] steht keine große organisierte Lobby. Sie steht gewissermaßen außerhalb des organisierten, politischen Prozesses.“ (Rau 2005)
53. International oft, von Ned Crosby immer mit Apostroph geschrieben: Citizens‘ Jury.
54. „aleatorisch“ kommt vom lateinischen „alea“= Würfel.
55. Am offensichtlichsten ist dies bei der Geschlechterverteilung, die nach dem „Gesetz der großen Zahl“ in einer ausgelosten Gruppe von Parlamentsgröße proportional zur Gesamtbevölkerung sein wird. Je spezieller die Anforderungen werden, umso unwahrscheinlicher wird natürlich ein exakter Proporz - oder er wird auch schlicht unmöglich. Wer also nur darauf schaut, ob auch Olympiasieger, ehemalige Bundespräsidenten oder Siamesische Zwillinge in der ausgelosten Gruppe vorkommen, wird wohl enttäuscht werden - allerdings zu Recht, weil sie korrekt mit deutlich weniger als einem Platz vertreten sein müssen bzw. dürfen. Allerdings unterstellt die Forderung nach einem exakten Proporz für jede denkbare Gruppe, dass alle Angehörigen einer (beliebig definierten) Gruppe gleich denken, fühlen, meinen - und sich darin zwingend von allen anderen Gruppen unterscheiden. Ich möchte aber z.B. weder der Gruppe der ehemaligen SPIEGEL-Leser noch der Gruppe der Frischkäseesser noch einer Gruppe der Kariesfreien angehören und dann von solcherart quotierten Leuten vertreten werden. (vgl. Rieg 2013a)
56. Die Begriffe „Planungszelle“ und „Citizens‘ Jury“ verwende ich im Folgenden nach Möglichkeit nicht mehr, in erster Linie, weil damit etablierte (bzw. sogar namensrechtlich geschützte) Verfahren zur Beratung von Politik und Verwaltung verbunden sind, die nicht für (alleinige) Entscheidungen vorgesehen waren. Ausdrücklich betone ich, dass ich keinen der derzeitigen Protagonisten aleatorischer-deliberativer Verfahren für meinen Vorschlag vereinnahmen möchte!
57. Peter Dienel hatte zunächst tatsächlich vorgesehen, Planungszellen drei Wochen lang beraten zu lassen. Dazu kam es jedoch nie - leider, muss man aus Forschungssicht sagen.
58. Der Verteidiger im Strafprozess soll gerade nicht wie der Angeklagte sein - dann bräuchte es ihn ja nicht -, sondern er ist ein Fachberater, der für seinen Mandanten reden darf, damit es gerade nicht so klingt, als rede der Mandant selbst. Diese Anwaltsrolle ist das Problem vieler Lobbygruppen, die behaupten, ihre Interessen seien auch die der von ihnen (ungefragt) Vertretenen - wie ich das etwa seit langem an vielen Kinder- und Jugendverbänden kritisiere (vgl. Rieg 2007b und 1992).
59. Die Pressemitteilungen insbesondere der „Hinterbänkler“ zeugen übrigens gerade nicht von einer professionellen Politikarbeit, sondern von einer bemüht professionellen Selbstdarstellung. Beispiele dazu auf meiner Website www.Timo-Rieg.de
60. „Wenn ich als Geschäftsführer einer privaten Firma Steuern hinterziehe, werde ich dafür angeklagt. Wenn ein Kanzler von verfassungswidrigen Vorgängen weiß und es hinnimmt, dann kann er allenfalls abgewählt, aber nicht persönlich dafür haftbar gemacht werden.“ Sagte Geschichtsprofessor Josef Foschepoth am 9. Juli 2013 in einem Interview mit Sueddeutsche.de
61. http://www.wikileaks.org/wiki/Toll_Collect_Vertraege%2C_2002
62. „Über zwei Generationen hinweg, von 1949 bis 2009, umfasste die politische Elite 3346 Menschen, nämlich Bundestagsabgeordnete und/ oder Regierungsmitglieder in West-, ab 1990 in Gesamtdeutschland.“ (Weyh 2013) Weyh bezieht sich dabei auf Zahlen von Küpper, ich habe Zahlen der Bundestagsverwaltung und eine Wikipedia-Liste aller Bundesminister zitiert.
63. U.a. zitiert hier: http://www.zeit.de/2002/36/Die_heimliche_Hausmacht/seite-3
64. Selbst ohne jede Altersbeschränkung wären unter 600 Abgeordneten unglaubliche 8 Millionäre vertreten! Siehe z.B. http://www.welt.de/finanzen/article117239605/In-Deutschland-leben-erstmals-eine-Million-Millionaere.html
65. Aus eigener Erfahrung mit Planungszellen kann ich sagen, dass die Empfehlungen der ausgelosten Bürger am Ende niemals durch knappe Abstimmungen zustande kommen, sondern immer von einer breiten Mehrheit getragen werden, vieles von allen. Die Bürger haben die Tage zuvor heftig diskutiert, auch mal gestritten, aber am Ende können sie sich meist doch einigen, was für die Gesellschaft insgesamt jetzt das Beste ist.
66. So trat die CSU zur Landtagswahl 2008 mit Beckstein als Spitzenkandidaten an, der wieder Ministerpräsident werden sollte. Wegen des relativ schlechten Wahlergebnisses zog er sich jedoch zurück, so dass Horst Seehofer Ministerpräsident wurde. Auch auf beharrliches Nachfragen in der Talkshow Markus Lanz (ZDF) am 17. Juli 2013 wollte die damals amtierende Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner keinerlei Karriereabsichten für ihren Wechsel von der Bundes- in die bayerische Landespolitik angeben, sie blieb stereotyp bei der Aussage, sie wolle nur helfen, ein gutes Wahlergebnis zu erzielen und alles andere „schaun wir mal“. Eine andere bekannte personelle Überraschung war der Rückzug Oskar Lafontaines aus der SPD, als er im März 1999 seine Jobs Finanzminister und SPD-Vorsitzender hinschmiss und dann später bei der Linken wieder auftauchte.
67. Gegen ein solches „präsidentielles Regierungssystem“ werden in der Literatur viele Argumente vorgetragen, die bei unserem Modell aber ins Leere laufen, weil nicht nur der „Präsident“, sondern alle Regierungsmitglieder einzeln direkt vom Volk gewählt werden sollen und im Parlament keine Parteifunktionäre mehr sitzen.
68. Bei allen denkbaren, auch noch so rigiden gesetzlichen Vorschriften wird es nie eine Chancengleichheit aller Einwohner auf ein Regierungsamt geben - das kann auch gar nicht im Interesse der Gemeinschaft liegen. Vieles spricht aber dafür, dass die parteiinterne Ämtervergabe zu einer personellen Beschränkung auf die eher Mittelprächtigen führt.
69. https://web.archive.org/web/20070202191354/http://www.mehr-demokratie.de/volksabstimmung.html
70. Was dazu noch in der Fachliteratur geschieht, sind der eigenen Profilierung geschuldete Glaubenskriege.
71. Ein solches Volksbegehren sollte für Verfassungsänderungen auch von der Regierung eingeleitet werden müssen - sprich: will die Regierung oder ein Ministerium etwas an der Verfassung ändern, braucht es die festgelegte Mindestzahl an Befürworterunterschriften.
72. Das generelle Alkoholverbot von 1919 etwa hieß: „After one year from the ratification of this article the manufacture, sale, or transportation of intoxicating liquors within, the importation thereof into, or the exportation thereof from the United States and all territory subject to the jurisdiction thereof for beverage purposes is hereby prohibited.“ In Deutschland würde dafür heute sicherlich ein mindestens zwanzigmal so langer Text entstehen - der es nicht besser machen würde. Die Amerikaner haben ihn bekanntlich wieder gestrichen, mit den simplen Worten: „The eighteenth article of amendment to the Constitution of the United States is hereby repealed.“ Danach änderten die Amerikaner 18 Jahre lang nichts an ihrer Verfassung, bis sie 1951 die Amtsdauer des Präsidenten auf zwei Wahlperioden beschränkten. So einfache aber grundlegende Entscheidungen kann man durchaus vom Volk direkt beschließen lassen (was die US-Amerikaner übrigens nicht tun).
Timo Rieg, Jahrgang 1970, ist Diplom-Journalist und Diplom-Biologe und arbeitet als Publizist. (…)
Während des Biologie- und Journalistikstudiums Betätigungen u.a. für epd, SZ, Ärzte Zeitung, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Welt, FAZ Hochschulanzeiger, unicum, journalist u.a., während des NRZ-Volontariats auch für die NRZ (Neue Ruhr/Rhein Zeitung).
Vom ersten Revolutions-Buch “Artgerechte Jugendhaltung” (1992) sollen heute noch sammlerwertsteigernd gefüllte Kartons bei befreundeten Direkt-Vermarktern lagern. Dem diskursiver angelegten zweiten Werk “Über Leichen zum Examen?” waren immerhin zwei erfolgreiche Auflagen vergönnt, bevor die Universitäten von restentpolitisierten Schülern okkupiert wurden und jeglicher Widerstand gegen Tierversuche im Studium im Arsch war. Daher Gesinnungsaustausch und Autorenschaft marktgängiger Bücher.
Seit 1991 ist Timo Rieg hauptberuflich als freier Journalist tätig, zunächst in einem Gemeinschaftsbüro, seit 1997 mit eigenem Journalistenbüro in Bochum – und seit 2004 auch in Berlin. Neben der Produktion aktueller Presse- und Rundfunkbeiträge betreut sein Journalistenbüro Print- und Online-Magazine redaktionell und übernimmt Projektrecherchen. Schwerpunktthemen sind Qualität des Journalismus’ (inkl. Medienrecht und Medienwirtschaft), Demokratiereform und Verhaltensforschung.
Timo Rieg ist Autor, Herausgeber oder Editor von gut zwei dutzend (Fach-)Büchern, darunter “Verbannung nach Helgoland – Reich & glücklich ohne Politiker” und ein Remake Kurt Tucholskys “Deutschland, Deutschland über alles”, und Chefredakteur des Satiremagazins “Helgoländer Vorbote”. Regelmäßig erweitere Lesungen im Format “Solo-Talk”.