von Matthias Burchardt
Ungekürzte Version aus dem Frühling 2020
Erstveröffentlichung (In: Lockdown 2020, Promedia)
Es stellt kein geringes Risiko dar, sich im Laufe eines offenen Prozesses über diesen Prozess zu äußern. Man könnte sich – mangels Abstand – in der Sache irren. Das wäre ein guter intellektueller Grund, sich mit unbedachten Äußerungen zurückzuhalten. Man könnte aber auch »unter die Räder geraten«, weil man – je nach Ausgang der Geschichte – am Ende möglicherweise auf der falschen Seite steht. Auch opportunistische Klugheit könnte also ein überzeugendes Motiv für Urteilsenthaltung und den Verzicht auf Positionierung sein. Was reitet also den Autor dieser Zeilen – gegen alle Vernunft und Klugheit – das Wagnis des Irrtums und der gesellschaftlichen Exklusion auf sich zu nehmen? Der theoretische Wert dieses Textes könnte darin bestehen, dass selbst bei Fehleinschätzungen ein Dokument vom ›Denken in der Krise‹ als Zeitzeugnis zurückbleiben würde, eine Innenansicht aus den Wochen der Desorientierung.
Der Aspekt des Opportunismus mag für viele akademische Zeitgenossen maßgeblich sein, konfligiert aber mit einem ethischen Anspruch an das Denken. Auch Intellektuelle tragen, in allem, was sie tun oder lassen, was sie sagen oder beschweigen Verantwortung für das Gute im Gemeinwesen. Es wäre also zynisch, auf den Ausgang von politischen Ereignissen zu warten, wenn man hoffen darf, durch die Publikation seiner Gedanken zu einem positiven Ausgang beizutragen. Damit sind keineswegs Allmachtsphantasien oder gar ein Anspruch auf Unfehlbarkeit verbunden. Es geht ausdrücklich nicht um einen Herrschaftsanspruch oder um die Verkündung letzter Wahrheiten. Die Absicht besteht allein darin, überhaupt wieder einen Diskurs zu eröffnen und unberücksichtigte Aspekte zur öffentlichen Beurteilung und Abwägung zu Gehör zu bringen.
Der Autor hat es sich zur Gewohnheit gemacht, zu Beginn seiner Ausführungen zwei ganz naive Fragen zu stellen: »Ist es in einer Demokratie gestattet, in Sachfragen unterschiedliche Auffassungen zu vertreten?« und »Ist es im Rahmen von Wissenschaft zulässig, gängige Auffassungen einer Prüfung zu unterziehen oder mit zuwiderlaufenden Hypothesen zu konfrontieren?« Natürlich wird jeder ›gute Demokrat‹ dies als Suggestivfragen abtun, zumal er sich darauf verlassen kann, dass das Problem von Meinungspluralität und Vielstimmigkeit in Politik und Wissenschaft schon durch gesellschaftliche oder medial gesteuerte Diskurskonstellationen vorgefiltert wird, wie es sich an den Themen Migration, Klima und Genderismus zeigen ließe. Ähnliches gilt für die Debatte über den politischen Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Zwar bestehen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit formal fort, wer aber von ihnen Gebrauch macht, findet sich einem inquisitorischen Tribunal und standrechtlicher Sanktion ausgeliefert, wie es sich etwa am Beispiel Wolfgang Wodargs zeigen lässt, der aufgrund seiner Verdienste bei der Aufklärung des H1N1-Skandals (Schweinegrippe Fehlalarm) auf der EU-Ebene zunächst hohe Anerkennung genoss, aber dann in Folge seiner in den falschen Medien platzierten Diskursbeiträge öffentlich diffamiert und vom Vorstand von Transparency International faktisch zur persona non grata erklärt wurde. (1) Wodarg war bis zu diesem Zeitpunkt Leiter der Arbeitsgruppe Gesundheit und Mitglied des Vorstand von TI, einer NGO, die übrigens von ehemaligen hohen Funktionären der Weltbank gegründet wurde. (2)
Ähnlich gelagert ist der Fall des Oberregierungsrates aus dem Bundesinnenministerium Stephan Kohn, der bis zu seiner Suspendierung im Mai 2020 im Referat KM 4 für die Kritischen Infrastrukturen zuständig war. Er hat, nachdem er auf dem Dienstweg kein Gehör fand, ein von ihm intern verfasstes Gutachten öffentlich gemacht, in dem er auf Fehler des Krisenmanagements und Gefahren für die kritischen Infrastrukturen hinweist. Dabei wird deutlich, dass die politischen Entscheider darauf verzichtet haben, die vorhandene breite Expertise aus dem eigenen Ministerium anzuhören. Kohns Gutachten diagnostiziert »schwerwiegende Defizite im Regelungsrahmen für Pandemien« und »Fehlleistungen im handwerklichen doing des Krisenmanagements«. (3) An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, wie zutreffend die Analysen von Wodarg und Kohn sind, sondern darum, dass der Diskurs darüber gar nicht mehr politisch oder wissenschaftlich auf der Sachebene geführt, sondern auf der Ebene von sozialer Exklusion, d.h. durch Macht unterbunden wurde.
Vor diesem Hintergrund ist eine Differenzierung zwischen dem medizinischen Sachverhalt und den gesellschaftlichen Konstellationen, innerhalb derer dieser Sachverhalt thematisiert oder gar instrumentalisiert wird, erforderlich. Dieser Unterschied wird deutlich, wenn man genau auf die Sprache achtet. Als legitimatorische Formulierung findet sich häufig: »Aufgrund von Corona muss …« Hier wird die Differenz von medizinischer und politischer Realität verwischt. Das Virus führt unter gewissen Voraussetzungen zur Ansteckung oder Erkrankung von Menschen. Es veranlasst aber nicht die Absage von Fußballspielen oder die Schließung von Restaurants. Letzteres sind Folgen politischer Entscheidungen. Das Virus verhält sich gemäß der Wirkzusammenhänge der Naturgesetze, Maßnahmen zu seiner Bekämpfung sind im Gegensatz dazu Produkte menschlicher Freiheit, sie können stattfinden oder unterbleiben, sie können so oder anders ausfallen. Wer sie trifft, muss sich dafür verantworten, dass und wie sie getroffen wurden, hat Anerkennung verdient, wenn sie angemessen waren, muss Rechenschaft ablegen und Konsequenzen hinnehmen, wenn sie wider besseres Wissen falsch waren. Vor diesem Hintergrund ist die ›sanfte‹ Unterbindung politischer und wissenschaftlicher Diskurse riskant und verantwortungslos, weil die Entscheidungsqualität auch von der Wissensbasis abhängt. Wenn sich in der Öffentlichkeit dann auch noch das Bild ergibt, dass die Legislative (Parlamente) zugunsten der Exekutive (Kanzlerinnentelefonate) an Bedeutung verliert oder dass einzelne Akteure aus dem Raum der Wissenschaft oder der Philanthropie überproportional Einfluss auf das Regierungshandeln eingeräumt bekommen, ist es nicht verwunderlich, dass das Vertrauen in die Verantwortlichen schwindet, zumal wenn auf der Basis einer wissenschaftlich einseitigen Expertise zur Gefahreneinschätzung wesentliche Grundrechte nachrangig gestellt werden. Hinzu kommt die Kontroversitätsphobie der Qualitätsmedien, die ihre Aufgabe nicht unbedingt in der Abbildung der Meinungsvielfalt oder als vierte Gewalt in der Kontrolle der Regierung sahen. Ein geleaktes Kommunikationspapier (4) aus dem Innenministerium legt nahe, dass die Erzeugung von Angst und die Beschwörung digitalen Zusammenhaltes weniger auf eigener Recherche beruht als auf dem Selbstverständnis als ›embedded journalism‹ mit dem Auftrag der Volkserziehung.
»Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1. Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
2. ›Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden‹: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.
3. Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann.« (5)
»Das massive Testen muss durch eine effiziente Kontaktsuche von positiv getesteten Personen unterstützt werden, wobei ein Teil von Hand erfolgen kann nach dem Verfahren, das das RKI schon vorschlägt (›Mit wem waren Sie seit fünf Tage vor Anfang der Symptome in Kontakt?‹). Um das Testen schneller und effizienter zu machen, ist längerfristig der Einsatz von Big Data und Location Tracking unumgänglich.« (6)
»Dieses ›Zusammen‹ [Herv. im Original] muss mitgedacht und mitkommuniziert werden. Dazu braucht es ein gemeinsames Narrativ (#wirbleibenzuhause, oder ›gemeinsam distanziert‹ – ›physische Distanz – gesellschaftliche Solidarität‹) und im besten Fall viele Gesichter (Prominente, Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler), die sich mit der Kampagne identifizieren.« (7)
Als worst-case-Szenario geht das Papier übrigens von exakt 1.159.441 Todesfällen (8) in Deutschland allein bis zum 27.5.2020 aus. Ob das Ausbleiben dieser Prognose nun eine Folge der erfolgreichen Lockdown- und Kommunikationsmaßnahmen ist oder ob es an der mangelnden Expertise der Prognostizierenden liegt, bleibt dahingestellt. Nur am Rande sei erwähnt, dass – wie bei allen politischen Prozessen – auch Interessenlagen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt haben könnten. Big Pharma, Onlineökonomie und Big Data haben in diesem Zusammenhang durchaus gesellschaftliche Resonanzräume für ihre Geschäftsfelder erobert und gewaltige Gewinne erzielt.
Eben weil sie in den Bereich möglicher Alternativen fallen, müssen Sinn und Funktion der Maßnahmen diskutiert werden. Die Funktionsfrage untersucht die Notwendigkeit (War es nötig oder überflüssig? In welchem Umfang war es nötig?) und die Effizienz (Waren die Mittel verhältnismäßig? Welchen Schaden haben sie bei allem Nutzen erzeugt? Hätte es Alternativen mit geringerem Schaden oder größerem Nutzen gegeben?) und die Effektivität (Sind die gewünschten Effekte als Folge der Maßnahmen eingetreten?). Diese Diskussion muss von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aber auch im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung geführt werden, allerdings nicht an dieser Stelle – schon allein mangels medizinischer Expertise des Verfassers.
Hier wird es um etwas anderes gehen, um die immateriellen Verluste, die durch das Hygieneregime des Lockdowns verursacht wurden. Es soll um Sinn gehen, um die Legitimationen, Zielsetzungen und Deutungen unserer Existenz, auf die hin und aus denen heraus wir Funktionen vollführen und deuten. Um die Differenz auf den Punkt zu bringen: Funktionen sorgen dafür, dass ich von A nach B komme. Sinn begründet, warum und wozu ich nach B möchte. Sinn ist orientiert an einer Entfaltung des Mensch-Seins, nimmt implizit Stellung zum Rätsel unseres Existenz, beantwortet in Wort und Tat die Frage nach dem Wozu. Sinn ist aber niemals nur Privatsache, sondern verdankt sich immer auch der kulturellen Tradition. Weil Sinn mächtiger ist als Funktion, ist Sinn ein umkämpfter Schauplatz – Propaganda, Framing und Infowars zeugen vom Sinnkrieg der Postmoderne. Die Errichtung von Herrschaft und die Transformation von Gesellschaften sind angewiesen auf Sinnhegemonie.
Dabei wäre es zu kurz gegriffen davon auszugehen, dass die Maßnahmen uns nur berauben oder Sinnelemente bzw. Lebensweisen zerstören würden. Vielmehr muss die Coronamaßnahmenkrise auch als ein disruptives Ereignis im Sinne der kreativen Zerstörung betrachtet werden, als ein Ereignis, das auch neue Rechtfertigungen von Herrschaft, Lebensweisen und Geschäftsmodelle hervorbringt, ja, sogar einen Neuen Menschen, den HOMO HYGIENICUS. Nachtwey und Seidl beschreiben die Change-Ambitionen der digitalen Eliten:
»In einer von Grund auf optimierungsbedürftigen Welt ist die Zerstörung des Bestehenden stets kreativ und Veränderung ein Wert an sich. Nicht die Verwalterin des Gleichgewichts, sondern […] derjenige, der es durcheinanderbringt und Neues durchsetzt, ist die heroische Figur des digitalen Kapitalismus. Dabei ist […] die Überwindung von technologischen, inneren, vor allem aber sozialen und politischen Widerständen ein zentrales Wertigkeitskriterium, bis hin zur Stilisierung des Gesetzesbruchs als Akt zivilen Ungehorsams […]. Entsprechend gilt: Umso größer die Veränderung, umso besser. Ein ganzer Sektor ist besser als nur ein einziger Markt, die ganze Welt ist besser als nur ein einziger Kontinent, ein unwahrscheinlicher ›Moonshot‹ besser als eine sichere, aber zaghaft-inkrementelle Verbesserung.« (9)
Ja, die Krise spielt sich auch als Tribunal und Lehrmeister auf. Nur, wer sich entsprechend verändert – so heißt es –, darf an der Zukunft teilhaben, die uns als ›Neue Normalität‹ angepriesen wird. Wer nicht bereit ist, seine Lebensweise, sein Verhalten, seine Wertorientierungen und kulturellen Grundvorstellungen anzupassen, würde ins Abseits geraten. Dies zeigt sich exemplarisch in der Ökonomie, wie Sigmar Gabriel in einem Interview der Zeit im Mai 2020 hervorhebt:
»In der Wirtschaft ist das Virus jetzt schon der große Beweger […]. Die Corona-Pandemie könnte die Bruchkante von digitaler und analoger Welt in der globalen Wirtschaftsgeschichte markieren.« (10)
An dieser Bruchkante beginnt die Zukunft und hinter ihr sollen die Relikte unserer bisherigen Lebensform zurückbleiben. Um diese immateriellen Verluste muss es bei Sinndebatten gehen. Die Frage lautet nicht nur »Wie wollen wir leben?«, sondern auch »Wer sind wir eigentlich?«, »Wer sollen wir (nach dem Willen der Transformation) werden?«.
Der Lockdown und die Kontaktsperre greifen nicht nur in die kulturellen Gepflogenheiten und zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Beziehungen ein, sondern beide heben auch die Differenz von öffentlichem und privatem Leben auf. Privatheit wird durch Homeoffice und Homeschooling aufgehoben und öffentliches Leben zugleich radikal ausgesetzt, geschlossen oder abgesagt: Gottesdienste, Beisetzungsfeiern, Hochzeiten, parlamentarische Debatten, Ausschussanhörungen für Gesetzgebungsverfahren, Gerichtsprozesse, Theateraufführungen, Sportereignisse, Konzerte, Großdemonstrationen, Kundgebungen, Jahrmärkte, Volksfeste, Restaurants, Schwimmbäder, Museen, Messen, Events, Einkaufszentren usf. Diese sozialen Ereignisse vollbringen nicht nur eine gesellschaftliche Funktion, sondern haben auch Relevanz in Hinblick auf Sinn. Sie sind Erfüllungsorte der Menschlichkeit, Kraftquellen der gemeinschaftlichen Existenz, überzeitliche und kulturübergreifende Schauplätze einer anthropologischen Selbstvergewisserung. Eine Bestattung etwa ist eben nicht nur ein Akt der hygienischen Kadaverentsorgung inklusive psychostabilisierender Symbolhandlung für Angehörige und Freunde zur Kompensation von trauerbedingter Dysfunktionalität. Sie ist ein Ritual, das überindividuelle Erfahrungsräume für tradierte Sinngestalten schafft, die das Rätsel des In-Welt-Seins auslegen und zur gemeinsamen Re-Formulierung in Hinblick auf Zukunft einladen. Die Menschen erleben die Zugehörigkeit zu tragenden Sinndeutungen: Sei es als Geschöpfe eines Gottes oder als säkulare Menschen. Dies gilt für alle beschriebenen Orte: Immer schwingt im Sozialraum – unmerklich und doch orientierend – ein Lebensentwurf mit. Das Museum zeigt uns die Geschichtlichkeit unserer Existenz, die Hochzeit reflektiert unsere Geschlechtlichkeit und die Stiftung von Verhältnissen zwischen den Generationen, die aus Eltern- und Kindschaft erwächst, usf. Dass wir in der Regel abgestumpft und taub gegenüber dieser Sinndimension sind, unterstreicht, dass die Sinnkraft der Rituale gerade aus ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit rührt. Spürbar und erkennbar wird all das erst, wenn es uns entzogen wird.
Der Lockdown und die weitgehende Einstellung des öffentlichen Lebens haben uns markanter Sinnfiguren beraubt, die man in den Monumentaltiteln der philosophischen Anthropologie (Menschenkunde) als Wesensformen benannt hätte:
ZOON POLITIKON: Der Mensch als Wesen, das politisch in einem Gemeinwesen existiert und dieses gestalten muss.
ANIMAL LABORANS: Das arbeitende Wesen, das der Natur durch Körperkraft Lebensmittel abringt.
HOMO FABER: Der herstellende Mensch, der sich durch seine Werke eine Welt schafft, in der er heimisch sein kann.
HOMO SAPIENS AMANS: Der liebende Mensch, der seine Erfüllung im geschlechtlichen, freundschaftlichen oder im selbstlos karitativen Bezug auf die Mitmenschen und die Welt findet.
HOMO LUDENS: Der spielende Mensch, der sich auf dem Wege der Phantasie der Schwerkraft der Wirklichkeit entledigt, um jenseits des Notwendigen seine Existenz in der Sphäre des Möglichen zu erträumen.
HOMO RELIGIOSUS: Der Mensch, der seine Existenz in der Spannung von Immanenz und Transzendenz kultisch ausdeutet.
Die oben angeführten Einschränkungen verletzen diese Menschenbilder und berauben uns gleichsam unseres sozialen Wesens. Der grammatische Singular HOMO (der Mensch) bringt eigentlich gar nicht hinreichend zum Ausdruck, dass alle genannten HOMINES letztlich Sozialformen charakterisieren: Politische, arbeitende, religiöse, künstlerisch-spielerische oder geschlechtliche Aktivitäten erwachsen immer einer Gemeinschaft und beziehen sich auf diese, selbst dann, wenn der konkrete Vollzug abseits im stillen Kämmerlein stattfindet. Lieben, Spielen, Feste feiern, Staatsbürger-Sein, Herstellen und Arbeiten kann ich letztlich nur weil ich einer Familiengemeinschaft entstamme, weil ich bei meiner Geburt eine Zivilisation und Kulturwelt vorfinde, die von einer Gemeinschaft geschaffen wurde, weil ich eine Sprache spreche, die mir geschenkt wurde, weil ich in all meinem Tun implizit oder explizit immer auf die Anderen Bezug nehme oder bezogen bin. Als radikaler Singular wäre ich tot, denn Leben in einem menschenwürdigen Sinne heißt, in einer Gemeinschaft zu sein. Hannah Arendt unterstreicht den tiefen Zusammenhang von Sozialität und menschlichem Leben:
»Für Menschen heißt Leben […] soviel wie ›unter Menschen weilen‹ (inter homines esse) und Sterben so viel wie ›aufhören unter Menschen zu weilen‹ (desinere inter homines esse).« (Arendt 1960, S. 15)
Der Lockdown beraubt uns deshalb vieler Möglichkeiten und Wirklichkeiten, unser Menschsein im Sozialen zu realisieren. Wesentliche Daseinsmomente sind uns zugunsten des HOMO HYGIENICUS und seines nackten Überlebens entzogen. Menschlichkeit und Lebenssinn werden uns amputiert! Als Prothese wird die Digitalisierung angepriesen. Sie verspricht, ein taugliches Mittel zur Kompensation zu sein. Nicht umsonst profitieren der Onlinehandel und die Streamingdienste von der Krise. Die Digitalisierung öffnet nicht nur das Private für Surrogate des Öffentlichen, sondern sie ermöglicht oder erzwingt auch die Übertragung ursprünglich öffentlicher Funktionen des Soziallebens in die ehemals geschützte Wohnung und hebt damit die Privatheit vollständig auf.
In diesem Abschnitt werden die Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona- Virus seitens der Bundesregierung unter Angela Merkel (11) und die öffentliche Kommunikation seitens der Qualitätsmedien ausdrücklich nicht in ihrer Funktionalität oder Dysfunktionalität bewertet. Vielmehr soll es darum gehen, sie in ihrer formierenden Kraft zur Ausbildung der Sinnfigur des HOMO HYGIENICUS zu untersuchen.
Der HOMO HYGIENICUS, von dem hier die Rede sein soll, kommt zu Beginn des Jahres 2020 zur Welt. Er bezieht sein Selbstbild aus dem Verhältnis zu einem Ding, das er gar nicht kennt, denn das Virus, zu dem er sich verhält, ist kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung. Es ist unsichtbar und zugleich omnipräsent in Medienberichten und Alltagsgesprächen, die über einen langen Zeitraum monothematisch (12) den Hygienediskurs bedienen. Die Qualitätsmedien senden im ausgehenden Winter zunehmend Schockbilder, Bilder von bunten Stachelkugeln, die sich als scheinbare Photographien des Virus darstellen, Bilder von Ärzten in Schutzkleidung, mit der Anmutung von Astronauten oder Soldaten bei der Bekämpfung von Bioterrorismus, Bilder von beatmeten Intensivpatienten auf Isolierstationen photographiert durch trübe Glasscheiben, Bilder von aufgereihten Särgen und langen Militärkonvois.
Weiterhin verbreiten die Medien Zahlen und Diagramme, zeigen dramatische exponentielle Wachstumskurven, die ins Unendliche weisen, aber auch Parabeln und Säulengraphiken. Infizierte, Genesene, Gestorbene werden auf Zeitachsen abgetragen. Die implizite Botschaft ist: »Verändere Dich und Dein Verhalten, sonst geschieht eine Katastrophe in der Zukunft! Wenn Du das Falsche tust, treibst Du die Kurve nach oben. Wenn Du nicht acht gibst, findest Du Dich bald selbst als Zahl in den Opfertabellen wieder!«
Es wird ein Regime der Zahlen und Kurven errichtet: Individuelles Handeln und Regierungsmaßnahmen werden quantitativ fassbar, operationalisiert und auf Ziele hin orientiert und kontrolliert. »Flatten the curve«, das Abflachen der Kurve wird als Maxime ausgegeben, also eine zeitliche Verlangsamung der unabwendbaren »Durchseuchung« der Population, damit die medizinischen Kapazitäten zur Behandlung der Opfer ausreichen. Später wird der R-Wert, also die Reproduktionszahl, zum Hinweisgeber der pandemischen Gefahr und zur Legitimation politischer Maßnahmen. Prognosen und Kennziffern geben den Insassen der SOCIETAS HYGIENICA Signale der Warnung und Feedback zum eigenen Verhalten.
Erst mit zeitlicher Verzögerung erscheint der Hygienediskurs (nicht das Virus) in der unmittelbaren Sichtbarkeit der Menschen und formt sie durch den Geburtskanal des sozialen Drucks weiter zum HOMO HYGIENICUS um. In den ersten Tagen, etwa um die Karnevalszeit, empfindet man plötzlich eine Scheu, sich in der Öffentlichkeit zu räuspern, zu niesen oder husten – was zu dieser Jahreszeit eigentlich zur üblichen Geräuschkulisse gehört. Nun aber schaut man sich unsicher und furchtsam um, wenn man jemanden hört: War das nur eine Erkältung oder droht mir von Anderen der Coronatod?
Nach und nach verändert sich auch das Begrüßungsverhalten: Ängstliche Menschen verzichten komplett auf Körperkontakt, die Mutigen ersetzen den Händedruck durch das aneinander Schlagen der Corona-Faust (bildmächtig vorgeführt im Gruß der Bundesligafußballer vor Spielbeginn vor dem Lockdown), andere riskieren es immerhin, sich mit dem Ellbogen zu berühren. Dabei wird durch Herzlichkeit die tradierte Bedeutung der jeweiligen Gesten überspielt. Die Faust gehört eigentlich dem Kämpfer, der Ellbogen hat es zum soziologischen Signum geschafft; die Ellbogengesellschaft bezeichnet das asoziale Verhalten bedingungsloser Konkurrenz.
Schon vor dem Lockdown ist die menschliche Wahrnehmung und das Verhalten im Sozialraum bereits durch den Hygienediskurs formiert und fokussiert. Gewöhnliche (also unhygienische) Verhaltensweisen werden fortan quasi-moralisch inkriminiert. Jeder fühlt den überwachenden Blick der anderen auf sich und wirft eben diesen Kontrollblick auf diese, so tragen alle dazu bei, dass nicht nur der alte Begrüßungshabitus ausradiert wird, sondern dass im spürbaren Ausbleiben des Gewohnten, das Hygienethema immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Dadurch erschallt der stumme Imperativ: »Du musst Dich, dein Verhalten und dein Leben ändern!« Die Begegnungssituation funktioniert nun als Detektor für Dissidenz, als Multiplikator des Opportunismus und als symbolisches Auslöschungsritual der alten Zeit.
Als Geburtszange des HOMO HYGIENICUS wirkt dann Ende März die Verknappung von ›Hygieneartikeln‹, insbesondere des Toilettenpapiers. In einer Massenhysterie kommt es zu Hamsterkäufen und Szenen beschämender Rivalität und Aggression. Wurde gehamstert, weil Toilettenpapier knapp war? War es knapp, weil gehamstert wurde? Jedenfalls war die Bedrohlichkeit der Situation für die meisten Menschen nicht durch Erfahrungen von wirklichen Krankheitsfällen im Familien- oder Bekanntenkreis gegeben, sondern durch den Blick auf leere Regale im Supermarkt. Über den – faktischen oder inszenierten? – Mangel rückte der Hygienediskurs jedem Einzelnen wortwörtlich auf die Pelle. Die Bevölkerung wurde in ihrer Lebensform erschüttert, indem sie auf die unterste Ebene von Abraham Maslows Bedürfnispyramide auf die physiologischen Bedürfnisse reduziert wurde. Sicherheit, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse oder gar Selbstverwirklichung, die an der Spitze der Pyramide steht, erscheinen verzichtbar, wenn die Basis, die Stoffwechselfunktionen, bedroht ist. Der Verweis auf die Ausscheidungen enthüllte zugleich, dass die Merkmale, Eigenschaften und Errungenschaften, die wir aus eigener Kraft oder in sozio-kultureller Gemeinschaftsleistung hervorgebracht haben, vergleichsweise wertlos sind. Professorentitel, Jahresgehälter, Bundestagsmandate oder gar Klickzahlen entheben die Personen nicht der Peinlichkeit des Stuhlgangs und infizieren somit jeden mit dem Hygienediskurs anlässlich der Toilettenpapierknappheit. Freiheit, Bürgerrechte, Parlamentsdebatten, Wahrheitsfragen, Kunst, Kultur, Freundschaften usf. rücken in den Hintergrund. Paralyse durch Analisierung, könnte das Motto dieser Geburtsphase lauten. In einer heuristisch-ironischen Anwendung des Vokabulars der Psychoanalyse könnte man auch von einer kollektiven Regression (Rückkehr) in die »anale Phase« sprechen, deren physiologisches und psycho-soziales Thema die Schließmuskelkontrolle bzw. die Angst vor Kontrollverlust bildet. In diesem Sinne findet nicht nur eine Reduktion auf die unterste Bedürfnisebene statt, sondern auch eine Infantilisierung der Menschen. Beides führt zur Zerstörung von Rollensouveränität als politisch-mündige Subjekte, ganz im Sinne des Unfreezings aus dem Change-Management, wo Menschen durch den Entzug von Sicherheit und Gewissheiten destabilisiert werden, um sie durch Manipulation in ihrem Verhalten, ihren Überzeugungen und in ihrem Sein zu verändern. (13) Zugleich wird aber auch die Zielperspektive des Change als Entlastung vorgezeichnet: Der Weg der Hygiene wird Euch erlösen!
Auch der öffentliche Raum wird zur Disziplinierung der Menschen umgestaltet: Vor den Geschäften finden sich Gitter und Absperrungen, die den unmittelbaren Eintritt zugunsten eines Hygieneparcours in Schlangenlinien verwehren. Markierungen auf dem Fußboden sorgen für Abstand, und Mitarbeiter in Warnwesten kontrollieren Abstände und Bewegungsmuster. Dabei dienen die Markierungen zur Trennung und Distanzierung, indem sie die Menschen einer Sichtbarkeit ausliefern, die Vereinzelung erzwingt. Texttafeln und Ikonogramme rufen die Verhaltensregeln in Erinnerung, mitunter mit widersprüchlichen Angaben, mal sind es 1,5, mal 2 Meter Abstand, die einzuhalten sind. Im Inneren des Supermarktes erklingt nicht nur die übliche Werbung aus den Beschallungslautsprechern, sondern in einem atmosphärischen Kontrast zur Easy-Listening-Musik auch die Stimme einer freundlichen Hygienegouvernante, die die Kunden ermahnt, zügig einzukaufen, nicht unnötig Produkte zu berühren und den Abstand zu Mitarbeitern und anderen Kunden einzuhalten. Das prototypische Material, mit dem der HOMO HYGIENICUS die Episoden seiner frühesten Kindheit assoziieren wird, ist das Plexiglas. Es funktioniert als Vertikalfläche der Trennung, ermöglicht visuelle Durchlässigkeit an Orten unvermeidlicher Kontaktaufnahme, z.B. an Schaltern und Kassen, hemmt aber den Flug von Körperflüssigkeiten. Desinfektion, bargeldloses Bezahlen und das Tragen von Handschuhen schützen schließlich vor Ansteckung gewissermaßen als letzte Verteidigungslinie bei Hautkontakt.
Bemerkenswert sind auch die Abrichtungen von Schulkindern, die unter dem Hygieneregime Präsenzunterricht erhalten. Hier sind unkommentiert Auszüge aus einem Elternbrief einer Grundschule:
»Kein Kind bewegt sich ab Betreten des Schulgebäudes bis zum Verlassen ohne die enge Aufsicht einer Lehrkraft – und zwar durchgehend, auch in der Pause. Ihr Kind wird sich über den gesamten Zeitraum ausschließlich in einer Gruppe von maximal 8 Kindern bewegen, die durchgängig von einer Lehrkraft begleitet und angeleitet werden und in der es nicht möglich sein wird, unbeobachtet die Vorgaben des Hygieneplans zu durchbrechen oder zu missachten.«
»1. Wenn ein Kind das Schulgebäude betritt, setzt es vorher einen Mund- Nasen-Schutz (MNS) auf. Auch die Lehrkräfte tragen MNS.
2. Für jede Klasse gibt es eigene Laufwege, eigene Toiletten und einen eigenen ›Sammelpunkt‹. Dadurch wird verhindert, dass sich Kinder verschiedener Lerngruppen begegnen bzw. sich ihre Wege kreuzen. In den Klassenräumen befinden sich nur noch Sitzplätze für 7 oder 8 Kinder auf Abstand. 12 Tischpositionen und Sitzplätze sind markiert. Kein Kind verlässt während des Unterrichts seinen Platz eigenmächtig.
3. Bewegung im Gebäude erfolgt ausschließlich im Gänsemarsch mit 1,5 Meter Abstand und ausschließlich in Begleitung einer Lehrkraft. (Ausnahme: Toilettengang. Da aber höchstens 1 Kind den Unterrichtsraum verlassen darf, um zur Toilette zu gehen und sich die Toiletten der Lerngruppen in unterschiedlichen Gebäudetrakten ohne Kreuzung von Laufwegen befinden, ist ein Kontakt mit anderen auch dort ausgeschlossen.)« (14)
Eine Grundschule in Süddeutschland droht sogar den Eltern von Zweitklässlern mit der Polizei bei Fehlverhalten auf dem Schulweg oder im Bus. (15) Die ridigen Hygienemaßnahmen ähneln die Schule einem Gefängnis an. Und gleichgültig, was an Unterrichtsstoff behandelt wird, lernen die Kinder vor allem eines: Werde zum HOMO HYGIENICUS!
Die Maskenpflicht wurde im Rahmen der sog. Lockerungen erlassen, sie ersetzt nicht das Distanzgebot, sondern ergänzt es. D.h. in der heißen Phase des Lockdowns reichte im Supermarkt der räumliche Abstand als Schutz aus, im Sinne der Öffnung des öffentlichen Lebens aber kam die obligatorische Mund-Nasen-Bedeckung dazu. Damit wurde eine rollen- und ortsexklusive Bekleidung entgrenzend auf weite Teile des öffentlichen Raumes ausgedehnt, alle Menschen waren damit symbolisch den Ärzten im OP oder auf Isolierstationen gleichgestellt, die ganze Welt gleicht damit einem Hospital. Im Sinne der ›Neuen Normalität‹, die nichts anderes als die Permanenz des Außnahmezustands bedeutet, wurde der Begriff ›Alltagsmaske‹ geprägt. Da der Eigenschutz medizinisch kaum belegt ist, gilt das Maske-Tragen als Geste der Rücksicht mit den Menschen aus der »Risikogruppe«, die Maskenweigerung als potentielle Körperverletzung, selbst wenn niemand aus diesem Kreis der Gefährdeten anwesend ist. Damit verändert sich das öffentliche Verhalten und schafft weitere Konstellationen zur Formierung des HOMO HYGIENICUS. Die Maske unterdrückt die Erscheinung der individuellen Person. Bei aller Kreativität der jeweiligen Ausgestaltung in Eigenproduktion entsteht eine gewisse Uniformität des öffentlichen Auftretens, eine Unkenntlichkeit, die lange mit dem Vermummungsverbot belegt war.
Die Maske verhüllt nicht nur, sie beraubt das Gesicht auch seiner differenzierten mimischen Ausdrucksmöglichkeiten und sorgt für Irriationen oder gar für das Ausbleiben der sozialen Kommunikation: Ein verständnisvolles oder entschuldigendes Lächeln war beispielsweise bisher stets eine gute Möglichkeit, eine Konfliktsituation nonverbal aufzulösen. Dies und vieles andere entfällt nun. Über die Mimik lief gerade im Umgang mit Fremden ein großer Teil der Verständigung, die uns einen sozialen Zusammenhalt spürbar machte und Resonanzen auslöste, selbst wenn es ethnische, soziale oder kulturelle Grenzen zwischen den Menschen gab. Die Maske überschreibt nun diesen mimischen Ausdruck mit der hygienischen Botschaft. Die Analogie zum ›Maulkorb‹ ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar ist dem Maskenträger das Sprechen noch möglich, allerdings hat, bevor er etwas sagen kann, die Maske immer schon gesprochen. Jeglicher Versuch, durch Sprache Nähe herzustellen, wird durch den akustischen Widerstand der Maske und ihre permanente Distanzbotschaft konterkariert.
Der Hygienediskurs läuft als Grundton unterhalb jeglicher Kommunikation mit. Hinzu kommt die veränderte Selbsterfahrung durch die Luftnot und Bedrängung durch den Stoff und das Rückatmen der eigenen Abluft. Der freie Atem vermittelt ein Gefühl von Weite, die Maske dagegen wirft uns durch Enge und Abgeschlossenheit auf uns selbst zurück. Sie wiederholt realsymbolisch das Gefühl des erstickenden Corona-Todes und konfrontiert uns mit unseren Absonderungen, die sich in ihr sammeln. Die Sekrete, die uns während alltäglicher Lebensführung ebenso zwangsläufig wie beiläufig entweichen, werden plötzlich Gegenstand unserer Wahrnehmung: Der Hauch kondensiert, der Speichel verfängt sich beim Sprechen in der Maske, die Brille beschlägt. Damit manifestiert sich die Aufforderung an den HOMO HYGIENICUS: »Sondere Dich ab von den Anderen, denn Du sonderst Sekrete ab, die den möglichen Tod in sich tragen.«
Alle angeführten Maßnahmen: mediale Schockbilder, pseudowissenschaftliche Kurven und Diagramme, die Aktivierung der untersten Bedürfnisebene durch Verknappungsängste, die separierenden Raumordnungen, die Beschallung und Beschilderung mit Verhaltensimperativen, die endlosen Hygienekonzepte in Schulen und am Arbeitsplatz bis hin zum Maskenzwang erweisen sich – über ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Nutzen hinaus – als ein Mittel der radikalen Umerziehung des Menschen zum HOMO HYGIENICUS.
Was genau aber kennzeichnet den HOMO HYGIENICUS? Wir erinnern uns: Er definiert sein Wesen aus dem Bezug zu einem Virus, das er nicht gesehen hat, nicht sehen kann und niemals sehen wird, weil es grundsätzlich in seiner Wahrnehmung nicht erscheinen kann. Die Unsichtbarkeit des Virus bedeutet, dass sein Nachweis oder gar die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen ihm und den sichtbaren Phänomenen (Erkrankungen, Todesfälle) keinesfalls aus der Anschauung oder dem Urteil des HOMO HYGIENICUS selbst entstammen kann. Er ist auf Experten angewiesen, die unter Zuhilfenahme von Testverfahren, Tierversuchen, Statistiken und Modellierungen, die Existenz und das Krankheitsrisiko erheben und zu Hypothesen verdichten. Diese Hypothesen sind keineswegs willkürlich, sondern abgesichert durch den wissenschaftlichen Diskurs, soweit dies möglich ist, denn dieser Diskurs ist voraussetzungsreich, kompliziert und kontrovers. Der HOMO HYGIENICUS wäre schon mit den erforderlichen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Erörterungen überfordert. Wie funktioniert das PCR (polymerase-chain-reaction)-Testverfahren? Was erhebt dieses, was blendet es aus? Wie zuverlässig ist es? Jeder – auch der beste – Test erzeugt falsch positive Befunde in einem nicht unerheblichen Prozentsatz (zwischen 0,5 – 4%). D.h. selbst bei einer komplett uninfizierten Population gäbe es permanent Zahlen von Infizierten laut Testergebnis. Ebenso gibt es falsch negative Ergebnisse, so dass ein negativer Test nicht unbedingt die Virenfreiheit belegt. Ebenso komplex ist die eindeutige Zuweisung von Todesursachen. Gerade bei mehrfachen Vorerkrankungen wäre genau zu differenzieren, ob jemand an oder mit Corona gestorben ist. Exemplarisch auf die Spitze getrieben wird diese Problematik in (zynischen) Medienberichten über eine Corona-Infektion von George Floyd (16), der starb, als ein Polizeibeamter über längere Zeit auf seinem Hals kniete.
Testverfahren und die Feststellung der Todesursache wären nur zwei Beispiele für die Komplexität des Themas, die unterstreichen sollen, dass der HOMO HYGIENICUS weder eine unmittelbare Anschauung des Virus hat, noch über eine sichere Erkenntnis verfügt, die auf eigener Forschung und selbstdenkendem Urteil beruht. Er ist angewiesen auf eine popularisierende journalistische Übersetzung. Mit anderen Worten: Er muss glauben, was die Medien berichten.
Die Unsichtbarkeit des Virus könnte den HOMO HYGIENICUS dazu verleiten, die Inexistenz des Virus zu unterstellen. Dies fällt allerdings eher in die Pathologie des ›Verschwörungstheoretikers‹, der dem HOMO HYGIENICUS als böses Gegenbild zur Erbauung und Bekräftigung entgegengehalten wird. Der HOMO HYGIENICUS zieht aus der Unsichtbarkeit des Feindes eine andere Konsequenz. Er denkt sich: »Wenn das Virus unsichtbar ist, kann ich auch seine Abwesenheit nicht sehen. Daraus folgt, dass es im Prinzip überall anwesend sein kann.« Nichtwahrnehmbarkeit mündet – vor dem Verstärkerhintergrund der Angst – damit aber in die scheinbar vernünftige Unterstellung der Allgegenwart des Virus. Jede Fläche des öffentlichen Raumes, das gesamte Luftvolumen eines Verkehrsmittel, jede Hand einer Verkäuferin, jedes Husten des Nachbars, jeder Rotz des Spielplatzkindes usf. könnten kontaminiert sein, nein!, es ist sicherer davon auszugehen, dass sie kontaminiert sind. Einen offenkundig gesunden Menschen zu umarmen, ist riskant, weil auch er infiziert sein könnte, ohne dass die Krankheit schon ausgebrochen ist. Undenkbar ist erst recht, einem positiv getesteten oder gar einem kranken Menschen nahe zu kommen. Die Heuristik (probeweise Unterstellung) des Befürchtens macht keinen Unterschied im Umgang mehr zwischen dem faktisch ansteckenden Schwerkranken und dem scheinbar Kerngesunden, der doch bloß ein Noch-nicht-faktisch-ansteckender-Schwerkranker ist.
Als medizinische Disziplin hat es die Hygiene nicht mit der Versorgung oder Heilung der Kranken zu tun, sondern mit dem Schutz der Gesunden. Der Kranke ist ein Störenfried in der Ordnung der Hygiene und muss ausgesondert oder gemieden werden. Während der Quarantäne entscheidet es sich bei Zweifelsfällen, in welche Klasse die Personen einsortiert werden. Hygiene entzieht im Krankheitsfall das Recht auf soziale Partizipation. Ärzte fungieren als Torhüter zwischen dem Kosmos der Gesundheit und der Krankheit. Es gehört etwa zu den Aufgaben von Betriebsärzten, den Simulanten zu entlarven, der sich seiner Aufgaben und Verpflichtungen entziehen will, indem er Krankheiten vortäuscht. In hygienischer Hinsicht ist der Simulant nun weniger bedrohlich als der Dissimulant, der seine Krankheit durch vorgetäuschte Gesundheit verbergen möchte, um weiterhin im Sozialraum der Gesunden agieren zu dürfen. Biometrische Erfassung von Vitaldaten, Tracing, Tracking, wiederholte Massentests, Zwangsimpfungen und die öffentliche Markierung von zertifiziert Gesunden durch einen Hygiene-Pass oder einen grünen Punkt, wie an einem Gymnasium in Neustrelitz (17), erscheinen deshalb in der Rationalität des Hygieneregimes als sinnvolle Maßnahmen.
Dem HOMO HYGIENICUS steht das Test-Instrument im Alltag allerdings (noch) nicht zur Verfügung. Er kann sich niemals sicher sein, einem Dissimulanten gegenüber zu stehen. Damit werden die Differenzen von Sein und Schein, Realität und Potentialität in einem pervertierenden Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) ad absurdum geführt. Gesund-Sein ist nur ein scheinbarer Befund, weil in jeder gesunden Realität die Potentialität des todbringenden Virus schlummert. Und je weniger man das Virus sieht, umso mehr sieht man alles und jeden im Lichte des Virus. Die Medizinhistorikerin Barbara Duden (18) hat dieses Drama im Begriffspaar von ›Gefahr‹ und ›Risiko‹ gefasst. Gefahr zeichnet sich in der eigenen Wahrnehmung ab, bekundet sich als ein Phänomen. Risiko ist eine statistische Wahrscheinlichkeit. Wenn die Turbine des Linienflugzeugs für alle sichtbar brennt, besteht offenkundig Gefahr für die Insassen. Das Risiko eines Flugzeugabsturzes dagegen ist eine statistisch ermittelte Größe, die rein gar nichts über den Zustand derjenigen Maschine sagt, in der ich gerade sitze. Wenn ich aber um den Prozentsatz weiß und unter Flugangst leide, projiziere ich in jedes Geräusch einen möglichen Absturzgrund.
Da also das Virus niemals ein wahrnehmbares Phänomen sein kann, – es gibt schließlich auch hustende Menschen ohne Virenbefall und scheinbar Kerngesunde mit positivem Test – bleibt dem HOMO HYGIENICUS nichts anderes übrig, als das Risiko als Gefahr wahrzunehmen. In Umkehr des hygienisch riskanten christlichen Grund-Satzes ›Liebe Deinen Nächsten!‹ generalisiert der HOMO HYGIENICUS die Krankheitsvermutung und gibt sich den Leitspruch ›Fürchte Deinen Nächsten!‹. Jeder Mensch, der ihm gegenübersteht, erscheint als eine Verkörperung der Infektionskurve, als eine todbringende Virenschleuder, welche die winzigen Stachelkugeln aus der Tagesschaugraphik in seiner Umwelt verteilt. Der HOMO HYGIENICUS hat das Zutrauen in seine eigene Wahrnehmung verloren, er handelt vor dem Hintergrund innerer Bilder, die sich über seine Erfahrungswelt gelegt haben. Weil sein Handeln aber real ist, errichtet er damit eine ›Neue Realität‹. Dies rückt ihn in die Nähe des Hypochonders.
Das einzig angemessene Verhalten kann für den HOMO HYGIENICUS nur in der Unterwerfung unter den »virologischen Imperativ« (19) (Markus Gabriel) bestehen und zwar im privaten wie im politischen Raum: Hygienismus entwickelt sich dadurch zur ultima ratio, die in der Spielart der Rassenhygiene einen wesentlichen Baustein des Hitler-Faschismus bildete. In der Lebensführung folgt daraus eine Haltung des Meidens und Vermeidens, die durchaus Parallelen mit dem Geisteszustand und dem Verhalten von Menschen mit Angststörungen aufweist. Die App Crowdless (20) beispielsweise informiert den HOMO HYGIENICUS über Menschenansammlungen, damit er seine Lebensplanungen darauf abstimmen kann, Menschenansammlung zu umgehen. Kontaktlosigkeit, Distanz, Abschottung, Misstrauen oder übervorsichtige Rücksichtnahme prägen sein Sozialverhalten. Egoistische und altruistische Motivlagen führen letztlich zu identischen Praktiken, die idealerweise eine Körperlosigkeit anzielen. Damit kommt auch die Differenz von ›sauber‹ und ›rein‹ ins Spiel, die schon in der Waschmittelwerbung des 20. Jahrhunderts den metaphysischen Überschuss einer längst verblichenen Epoche kapitalisiert hat. Das Reinheitsideal wird vom HOMO HYGIENICUS durch rituelle Praxen des Waschens und Desinfizierens angestrebt und zugleich zur sozialen Klassifikation der ›Unreinen‹ genutzt. Sinnvolle Reinlichkeit wird damit zur symbolischen Reinheit und sozialen Überlegenheit – auch in moralischer Hinsicht – überhöht. Da das asketische Moment des Neuen Menschen im Zeichen eines klinischen Nihilismus steht, verkümmern Gesundheit und Leben zum tristen Selbstzweck, zu einem Wert an sich, der messbar, vergleichbar, steigerbar und herstellbar ist. In der DNA des HOMO HYGIENICUS findet sich nämlich auch das Erbgut des HOMO OECONOMICUS, durch welches sich im Phänotyp die Elemente der technischen Selbstoptimierung und gesundheitlichen Selbstbewirtschaftung verwirklicht finden. Vielleicht ist diese Lebensform eine willkommene Zwischenstufe auf dem Weg zum Transhumanismus, zur technischen Selbstüberwindung des Menschen, der seine körperliche und soziale Verletzlichkeit durch die sog. ›Coronakrise‹ vor Augen geführt bekommen hat.
Diese Selbsttransformation ist aber auch eine gewaltige Bürde, denn Gesundheit wird zum Gegenstand von Messen (Testen) und Machen. Die entlastende Vorstellung der Antike, dass die Natur in uns (PHYSIS) aus sich selbst heraus Kraft- und Heilquelle (Abwehrkräfte) sein kann, ist ihm nicht mehr zu eigen. Das Risikokalkül fordert hygienisches Machertum und verstellt dadurch den Blick auf das Rettende, das uns von allein zuwächst.
Wirft man abschließend einen medizinhistorischen Blick zurück auf das frühe 20. Jahrhundert, stellt man fest, dass auch zu dieser Zeit der Hygienediskurs bei der gesellschaftlichen Transformation eine Katalysatorfunktion eingenommen hat. Alfons Labisch hat ausführlich dazu gearbeitet. (21) Für ihn modelliert der HOMO HYGIENICUS eine neue, nutz- und steuerbare Sozialfigur an der Zäsur von der Agrar- zur Industriegesellschaft:
»›Gesundheit‹ erweist sich damit als Konstruktion einer adäquaten Sinnwelt industrieller Gesellschaften: hier liefert sie die Legitimation sozialtechnologischer Gestaltung von Verhältnissen und Verhalten.« (22)
Damit diese Steuerungskraft wirksam werden kann, muss zunächst die Mündigkeit der zu steuernden Menschen neutralisiert werden durch den Entzug von Urteilskraft und die Installation einer Expertokratie:
»Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, als Stützkonzeptionen symbolischer Sinnwelten, entlassen das Wissen um die Stützfunktionen der Sinnwelt vollends aus der Alltagswelt der Laien und stellen es den Experten der offiziellen Welterklärung und Sozialtechnologen/Gesellschaftsingenieuren anheim.« (23)
Die sozialtechnologische Rolle des Arztes bedeutet einerseits eine Ermächtigung zur Verhaltensnormierung und andererseits eine Unterwerfung zum Instrument der Sozialtechnologie, einer Rolle also, die eigentlich mit dem Ethos des Mediziners nicht vereinbar ist:
»Mit der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe ist gleichzeitig eine mittelbare oder unmittelbare Verhaltenssteuerung gegeben: mittelbar durch positive und negative Anreize, unmittelbar durch Ge- und Verbote. Nichtbefolgen der Anweisungen kann Sanktionen und Ausgliederungsmechanismen in Gang setzen.« (24)
Eine vertiefte Analyse, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann, müsste danach fragen, inwieweit auch der HOMO HYGIENICUS 2020 eine systematisch produzierte, steuerbare Figur ist, die zum Preis der nihilistischen Gesundheit bereit ist, Demokratie, Kultur und persönliche Entfaltung einer Steuerungselite zu übertragen. Eine Parallele deutet sich in der breiten Interessenartikulation der Digitallobby an. Und auch das Weltethos-Institut in Tübingen verlautbart vollmundig:
»Die Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften werden sich durch die Digitalisierung im 21. Jahrhundert also ähnlich grundlegend verändern wie die Treiber der industriellen Revolution zur fundamentalen Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert führten.« (25)
Digitalisierte Welten sind die ideale Umgebung für den HOMO HYGIENICUS. Sie sind kontaktlos, unstofflich, steril, distanziert und bilden zugleich eine (kostenpflichtige) Prothese zur Kompensation der Distanzierungsverluste. Die Suggestion lautet: ›Unter Hygienebedingungen ist die Realität doch bloß eine unattraktive Alternative zum Cyberspace.‹ Fernbeschulung, Homeoffice, Internethandel, Streamingdienste, Soziale Medien, Videophonie, Industrie 4.0 könnten dann bald reale soziale Situationen überflüssig machen. Die digitale Kontrolle verspricht zusätzlich Sicherheit und Berechenbarkeit. Die smarten Lösungen entlasten den Menschen von vielen lästigen Aufgaben und der Bürde, eigene Entscheidungen treffen zu müssen.
Kontrolle und Steuerung aber widersprechen dem Geist der humanistischaufklärerischen Demokratien. Die Körperlosigkeit und Enträumlichung des sozialen Lebens missachten die leibliche Existenz des Menschen und seine Angewiesenheit auf Nähe und Berührung. Der Traum von der hygienischen Unsterblichkeit mündet in einer Isolationshaft, deren Tristesse durch digitale Prothesen und Sozialsurrogate nicht dauerhaft überspielt werden kann.
Und: Zuviel Hygiene macht krank. Desinfektion und Medikalisierung unterstützten die Entstehung multiresistenter Keime. Wer zu viel desinfiziert, lässt sein Immunsystem verkümmern. Übertriebene Handdesinfektion schädigt die natürliche Schutzfunktion der Haut, so dass Keime leichter eindringen können. Und wer sich impfen lässt, muss Impfschäden befürchten.
Der HOMO HYGIENICUS in seiner Digitalblase verwandelt sich ohne Not in einen zweiten David Vetter (26), der als ›boy in the bubble‹ tragische Berühmtheit erlangte. Aufgrund eines schweren Immundefektes verbrachte er sein ganzes Leben in einem Kunststoffisolator. Er verstarb mit 12 Jahren am 22. Februar 1984, ohne jemals Wind an seinen Wangen gespürt zu haben. Seine Mutter Carol Ann küsste ihn zum allerersten Mal an seinem Todestag.