Tagebuch

SCHREIBEN

Lebenskunst

 

 

Wer Tagebuch schreibt, lenkt die Aufmerksamkeit zurück auf sich selbst. Er ist nicht gefährdet, nur auf äußere Reize zu reagieren, sondern wendet sich ebenso seinen inneren Impulsen, eigenen Gedanken und Gefühlen zu. Das bewirkt eine Selbstzentrierung und zugleich eine größere Immunität gegen Fremdsteuerung. Außerdem führt das Schreiben, das immer Wort für Wort und Satz für Satz vonstattengeht, zu einer gewissen Klarheit bei den eigenen Emotionen und Reflexionen. Es stärkt die Individualität und hilft, die eigene Position, die eigenen Auffassungen, Erkenntnisse und Affekte deutlicher zu fassen. Es stärkt das Selbstbewusstsein und vermindert zugleich die Neigung, sich von den Ängsten oder der Hysterie anderer unwillkürlich anstecken zu lassen. Und man vermindert Einseitigkeiten. Denn während man etwas niederschreibt, steigt ja in einem zugleich die Frage auf, ob nicht auch eine andere Perspektive wahr sein könnte und das schärft nach und nach das eigene Urteilsvermögen.

Viele Menschen greifen erst in existentiellen Situationen, bei einer großen Liebe, einer schweren Krankheit, in einer Phase der Trauer oder bei besonderen Schicksalsschlägen zu einem Tagebuch. Aber auch dann, wenn etwas Unerwartetes oder Bedrohliches über eine ganze Gesellschaft hereinbricht und man am Anfang orientierungslos ist, kann man entweder immer nur ins Außen gehen und hoffen, von da Orientierung zu bekommen – oder eben zugleich nach innen. Vor allem, wenn in einem selbst und um einen herum anfangs ein gewisses Chaos herrscht, ist es gut, immer wieder einen Ruhepunkt zu finden und sich innerlich zu sortieren. Wer in sich hineinspürt, kann oft eine Gleichzeitigkeit von ganz verschiedenen Gedanken und Gefühlen wahrnehmen: Ängste und Selbstberuhigungen, Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen. Denn die immer gleichen oder anfangs auch einander widersprechenden Botschaften treffen ja bei jedem Einzelnen auf alte Vorerfahrungen, Deutungsmuster oder auch Traumata. (1)

So kann man sich bei neuen oder scheinbar neuen Gefahren, die die ganze Gesellschaft betreffen, anfangs hin- und her geschleudert fühlen und nicht genau wissen, was man von den Nachrichten halten soll. Wie groß ist die Gefahr wirklich? Wer hat ein Interesse daran, Panik zu schüren? Wer will die Gefahr verharmlosen? Obendrein gibt es ja oft Ungereimtheiten in den Aussagen, die sich nur schwer deuten lassen. Dazu kommen noch eigene Beobachtungen und die von Freunden oder Bekannten, die mal mit übermittelten Nachrichten übereinstimmen und mal überhaupt nicht.

Wer in einer solchen Situation Tagebuch schreibt, hat trotzdem einen untrüglichen Kompass. Denn sogar das anfänglich vorhandene Chaos in Worte zu fassen, hat viele Vorteile. Zum einen geht man im Moment des Schreibens in eine Beobachterrolle. Dann notiert man: Was denke ich wirklich? Was fühle ich? Was halte ich für wahr? Welchen Wahrnehmungen, welchen Nachrichten vertraue ich? Und warum? Das schreibt man dann auf. Die unterschiedlichen Elemente der Realität – oder das, was als Realität mitgeteilt wird – schwirren nicht nur einfach durch den Kopf und den Körper. Die Informationen gehen nicht unbemerkt durch einen hindurch, beeinflussen und formen einen, ohne dass man es selbst bemerkt. Für diesen Moment, für diesen Tag notiert man genau das, was man sieht und hört, denkt und fühlt.

Das kann natürlich anfangs unscharf, unvollständig und sogar fehlerhaft sein. Aber das absolut Wesentliche ist, dass man es am nächsten Tag nachlesen kann. In der nächsten Woche und in einem Monat. So entreißt man die äußeren Informationen und die eigenen Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen dem schnellen Vergessen.

Und dann spielt auf eine geradezu magische Weise die Zeit für den Tagebuchschreiber, für die Wahrheit und die Erkenntnis. Denn schon nach ein paar Tagen oder Wochen entpuppt sich, ohne weiteres Zutun, welche Wissenschaftler, Politiker und Medien mit ihren Nachrichten, Einsichten und Prognosen nahe an der Wirklichkeit lagen und welche davon sehr weit entfernt waren. Zugleich kann man nachlesen, was man selbst zuerst geglaubt oder befürchtet hat und was sich später als falsch oder genau richtig herausgestellt hat.

Deswegen hat derjenige oder diejenige, die Tagebuch schreibt, eine klare Orientierung. Ist nicht gefährdet, sich unwillkürlich manipulieren oder vereinnahmen zu lassen. Wer schreibt, bleibt bei sich, selbst wenn von außen plötzlich ein gewisser Anpassungsdruck ausgeübt wird. Skepsis und Zweifel sind und bleiben Antreiber des Schreibens. Außerdem kann man sich im Tagebuch ohne Selbstzensur ausdrücken und braucht dennoch keine Konsequenzen zu befürchten, egal, ob man sich in einer Mehrheitsposition oder in einer Minderheitenposition befindet. Denn das kann auf lange Sicht – wie man aus der Geschichte weiß – öfter wechseln.

Natürlich wird ein aufmerksamer Schreiber die Rückmeldungen von anderen ernst nehmen und bei Gelegenheit notieren. Aber das eigene Denken und Beobachten wird er noch ernster nehmen. Das Interessante ist, dass man ja immer zurückblättern und nachlesen, sich erinnern und vergewissern kann. Das führt zu intensiven Lernprozessen. Meldungen oder Botschaften, die immer wiederholt werden, müssen schließlich nicht wahrer sein als solche, die nur einmal kurz erwähnt werden und dann wieder verschwinden. Absichtsvolle Manipulation lebt davon, dass bestimmte Einsichten oder Sichtweisen entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder schnell wieder vergessen werden. Lebt davon, dass bestimmte Nachrichten, die verbreitet wurden und sich ein paar Wochen später als einseitig oder als Irrtum herausgestellt haben, längst wieder vergessen wurden oder nur noch sehr unscharf erinnert werden können. Wie das bei vorbeiziehenden Bildern und gesprochenen Worten immer der Fall ist. Und das betrifft ganz verschiedene Themenbereiche in der Gesellschaft.

Ein Tagebuch enthüllt also nach und nach, Schritt für Schritt und ganz von allein, welche Wissenschaftler, Politiker oder Medien falsche Prognosen in die Welt gesetzt haben. Man braucht nur etwas zurückzublättern und die damaligen Aussagen mit der Gegenwart vergleichen. Es zeigt sich, wem man wirklich hat vertrauen können und wem nicht. Und es offenbart, ob man selbst mit seinen Wahrnehmungen, Argumenten und Einschätzungen richtig lag. Hatte man sich täuschen lassen? Oder hat einen die eigene Intuition verlässlich gelenkt? All das steht schon nach kurzer Zeit für jeden Tagebuchschreibenden klar und beinahe überdeutlich auf dem Papier. Wenn man das Beispiel Corona nimmt, kann man diesen Prozess exemplarisch verdeutlichen.

Anfangs wurde behauptet, bei Sars-Cov2 handele es sich um ein unveränderliches Virus. Aber dann kamen die Mutationen. Es wurde behauptet, das menschliche Immunsystem sei dem neuen Virus vollkommen hilflos ausgeliefert und nur eine Impfung könne die Menschheit retten. Aber schon bald konnte man erkennen, dass das Immunsystem ziemlich gut mit dem Erreger zurechtkam und nur Alte und schwer Vorerkrankte gefährdet waren. Oder es wurde behauptet, es gäbe ein exponentielles Wachstum der Infektionen. Aber schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass tatsächlich nur die Anzahl der Tests exponentiell gestiegen war und nicht die der Infektionen. Ein Lockdown nach chinesischem Muster wurde verfügt, um angeblich eine Welle zu brechen und die Krankenhäuser nicht zu überlasten. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass der R-Wert zu Beginn des Lockdowns schon längst wieder bei 0,9 gelegen hatte.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Man kann nur feststellen, dass einen das Tagebuchschreiben vor Berieselung, Reizüberflutung und Fehlinformationen gleichermaßen bewahrt. Es schärft immer aufs Neue die eigene Aufmerksamkeit. Man ist weniger abgelenkt und manipulierbar, weil man bewusst oder unbewusst geschürten Ängsten nicht einfach aufsitzt. Und so kann man wacher und klarer durch seinen Alltag gehen und mit dem eigenen inneren Raum besser in Kontakt bleiben, statt sich immer nur von außen leiten zu lassen. Und man bemerkt auch ganz nebenbei, dass aus dem Fernseher und dem Radio nicht nur etwas herauskommt, sondern dass man sehr viel da hineinsteckt, an Kraft, Zeit, Aufmerksamkeit, die einem dann nicht mehr für sich selbst zur Verfügung steht.

Wahrscheinlich unterstellt ein wohlgesonnener Tagebuchschreiber Wissenschaftlern, Politikern und Medien, dass sie nur das Beste für die Gesundheit der Menschen und der Gesellschaft im Sinn haben. Aber er fragt sich auch, ob nicht vielleicht doch mächtige Konzerninteressen im Hintergrund eine Rolle bei bestimmten Entscheidungen spielen könnten. Es ist natürlich nicht leicht, in einer unübersichtlichen Situation weitreichende Entscheidungen zu treffen. Aber ein Tagebuch hält eben alles fest. Das Zutreffende und das Nichtzutreffende. Und man kann sich ja durchaus, je nach dem, einmal auf der einen und einmal auf der anderen Seite wiederfinden.

Ob man also will oder nicht, der aufmerksame Tagebuchschreiber, der die Umstände und sich selbst beobachtet, kommt an bestimmten Einsichten und Schlussfolgerungen nicht vorbei. Bekommt nach und nach ein feines Gespür für die Gefahr und für Übertreibungen. Kinderspielplätze schließen? Rentner, die allein auf einer Parkbank sitzen, vertreiben? Nicht mehr spazieren gehen? Selbst im Freien Maske tragen?

Und merkwürdig, dass nicht wissenschaftlich unterschieden wurde, wer an und wer nur mit dem Virus stirbt. Dadurch waren die angeblichen Todeszahlen von Anfang an unglaubwürdig. Und warum verbot das RKI Obduktionen? Und war nicht schon nach wenigen Wochen klar, dass es sich bei Sars-Cov2 nicht um ein Killervirus handelt, wie anfangs behauptet wurde? Ein Hamburger Pathologe hatte sich über das unwissenschaftliche Verbot nicht zu obduzieren hinweggesetzt und ziemlich genau nachgewiesen, was es mit diesem Virus auf sich hatte. Dass hauptsächlich für alte und schwer vorerkrankte Menschen eine Gefahr bestand und fast alle mit und nicht an dem Virus starben.

Einem Tagebuchschreibenden fällt nach und nach auch auf, wenn einige Wissenschaftler, Politiker und Journalisten mit ihren Prognosen öfter zu fast 90% daneben liegen und andere immer wieder zutreffende Einschätzungen abgeben. Jeder kann mal irren, aber nach und nach wird klar, dass bestimmte Quellen und Wissenschaftler doch deutlich verlässlicher sind als andere. Es geht schließlich nicht um Glaubensfragen, sondern um Evidenz. Und wenn dann bestimmten Wissenschaftlern, die sich offensichtlich schon öfter geirrt haben, immer weiter eine mediale Bühne geboten wird, während andere, die näher an der Wirklichkeit lagen, nur selten oder gar nicht mehr zu Wort kommen oder sogar verunglimpft und eingeschüchtert werden, bemerkt man das einfach.

Tagebuchschreibende wissen dann zwar nicht, warum bestimmte Wirklichkeitsverzerrungen weiter betrieben werden, aber sie sind orientiert und lassen sich nicht mehr leicht beirren. Sie haben so etwas wie einen Ariadne-Faden (2). Nach außen und nach innen. Man kann ja ebenso die eigene Intuition überprüfen: Wem habe ich anfangs vertraut? Und warum? Habe ich mich täuschen oder überrumpeln lassen? Oder habe ich von Anfang an intuitiv dies oder das bemerkt?

Es fällt einem dann immer leichter, sich auf die eigenen Wahrnehmungen zu verlassen und man entgeht der Versuchung, einfach zu glauben, wenn die meisten Menschen dieses oder jenes für richtig halten, werde es auch die Wahrheit sein. Selbst wenn man plötzlich zu einer Minderheit gehören sollte, wird der eigene Erkenntnisprozess dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Die Kriterien von Wahrheitsfindung sind ja eindeutig: Es gilt, den einen und den anderen Aspekt, die eine wissenschaftliche Position und die entgegengesetzte wahrzunehmen, die Argumente abzuwägen und nachzudenken. Und wenn das in der Öffentlichkeit – aus welchen Gründen auch immer – nur eingeschränkt stattfindet, hat man die Möglichkeit, genau das im eigenen Tagebuch durchzuführen: den Disput verschiedener Ansichten.

Dieses Vorgehen bestärkt einen natürlich auch darin, sich nicht in umgekehrter Weise zu radikalisieren und unbewusst einer Gegenposition unkritisch aufzusitzen. Nur weil eine Position sich offenkundig als unzutreffend erwiesen hat, muss das Gegenteil davon noch nicht wahr sein. Auch jedes Gegenargument ist zu prüfen und abzuwägen. Es gilt, auch wenn es schwer ist, die jeweilige Gegenseite immer wieder anzuhören und zudem das Argument von der Person zu trennen. Einseitige Parteilichkeit und vorschnelle Verurteilungen gehen leider meistens mit einer gewissen Bequemlichkeit im Denken einher. Mit der Weigerung, entgegengesetzte Positionen zur Kenntnis zu nehmen, weil man sich oft auf der einen, wie auf der anderen Seite im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnt. Einem persönlichen oder gesellschaftlichen Dialog kann das nur abträglich sein.

Interessant ist ebenfalls zu beobachten, wer in der öffentlichen Diskussion unduldsamer, abwertender und rigoroser wird, wer anfängt, mit Machtmitteln gegen Andersdenkende vorzugehen. Mit Zensur, Entlassungen, Diskreditierung und Herabwürdigung statt mit Argumenten. Wer gute Argumente hat, die evident sind und mit der Wirklichkeit übereinstimmen, muss andere nicht beschimpfen oder ausgrenzen. Er kann getrost mit ihnen diskutieren.

Ein nächstes Wahrheitskriterium für den Tagebuchschreibenden ist daher die Frage: Wer fördert eigentlich den Dialog und wer behindert ihn? Wer unterdrückt andere wissenschaftliche Positionen, arbeitet mit Abwertung, Beschimpfung und Zensur? Und wer sucht immer wieder das Gespräch? Wer hat politische oder finanzielle Eigeninteressen und wer riskiert eher seinen Ruf, seine soziale Stellung und sein Ansehen, wenn er sich zu Wort meldet? Wer setzt auf mediale Macht und pausenlose Wiederholung und wer zitiert zutreffende Studien und hat die besseren Argumente?

Wer sich in seinem Tagebuch solche Fragen stellt und sie beantwortet, der hat seinen Ariadne-Faden, der ihn sicher durchs Labyrinth der vielen Argumente führt. Der oder die ist nicht in der Gefahr, subtilen, interessegeleiteten Einflüssen aufzusitzen und sich selbst nach und nach zu verlieren. Der kann sogar erkennen, wie einseitige Wahrheitsvorstellungen leicht zur Propaganda werden können, und diejenigen, die sie verbreiten, selbst die ersten Opfer ihrer eigenen Propaganda sind, weil sie diese gar nicht mehr als solche erkennen können. Und nicht zuletzt weiß ein Tagebuchschreiber, dass sich Minderheitenmeinungen in der Geschichte – leider oft erst im Nachhinein – als richtig, klug oder weiterführend erwiesen haben.

Das Tagebuch ist jedoch auch in anderer Hinsicht hilfreich und entlastend. Zum einen kann man, wenn ein Ausnahmezustand länger anhält, sehen, dass dennoch nichts bleibt, wie es ist. Auch wenn Dinge scheinbar nach dem immer gleichen Muster ablaufen und sich eine beinahe aussichtslose Situation zu verfestigen scheint, gibt es doch immer wieder Risse, Brüche und neue Dynamiken.

Es bilden sich spontane Initiativen von Ärzten und Juristen, von Psychologen und Eltern. Eine länger unterdrückte, ausgeblendete oder verleugnete Realität zeigt sich an immer mehr Stellen und lässt sich trotz Zensurmaßnahmen im Netz und einer Dauerschleife in den meisten Medien irgendwann nicht mehr leugnen. Andere Länder gehen andere Wege, ohne Lockdown, ohne Maskenpflicht, ohne Schulschließungen und stehen am Ende mit weniger Infektionen und Toten da. Die Statistiken sind zugänglich. Der Tagebuchschreiber muss sich am Ende nur noch fragen, was nicht in den Zeitungen steht und nicht im Fernsehen gezeigt wird, um immer genauer zu wissen, welche Wirklichkeitselemente gerade ausgeblendet werden.

Wenn man wach bleibt, kann man sehen, wie ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Wandel einsetzt, auch wenn man sich anfangs mit seinen Beobachtungen und Einsichten vielleicht als isoliert oder machtlos empfunden hat. Andere Menschen sind auf ihre Weise vielleicht zu ähnlichen Erkenntnissen und Beobachtungen gekommen. Mit ihnen kann man sich vernetzen, um auch nach außen aktiv zu werden. Wesentliche Informationen und Studien verbreiten, Protestbriefe schreiben oder Petitionen unterzeichnen. An Diskussionen oder Demonstrationen teilnehmen, an Medien schreiben oder Menschen unterstützen, in ihrer Mitte bleiben und sich selbst vertrauen.

Fremdbestimmung und Manipulation haben ja interessanterweise immer eine Tendenz zur Totalität im räumlichen und zeitlichen Sinne. Sie setzen auf Überwältigung und versuchen den Einzelnen zu isolieren und ihm ein Gefühl der Aussichtslosigkeit zu vermitteln, indem man zum Beispiel eine „neue Normalität“ definiert, die immer bleiben wird.

Das Tagebuch verlängert auch hier wie von selbst den zeitlichen Horizont. Sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Es „weiß“, dass es andere Zeiten gegeben hat und dass es wieder andere Zeiten geben wird. Dadurch entgeht man einer möglichen Resignation. Wie heißt es bei Bertolt Brecht: „Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne / Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. / Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne / Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“ (3) Das kann trösten und Mut machen zugleich.

Wann immer deshalb etwas als „alternativlos“ bezeichnet wird, ist dem Schreibenden und Denkenden klar, dass es sich entweder um Lüge, Täuschung oder Selbsttäuschung handelt. Es gibt selbstverständlich immer Alternativen, und die müssen angesehen, abgewogen und gegeneinandergestellt werden, damit sich nach und nach ein wirklicher Lösungsweg ergibt.

Doch ein Tagebuch kann dem Schreibenden noch ganz andere, heilende und helfende Impulse geben. Da es einen immer wieder zu sich selbst zurückführt, stellen sich unwillkürlich auch die folgenden Fragen: Was tut mir eigentlich in dieser Ausnahmesituation gut? Welche alten Routinen sollte ich vielleicht aufgeben? Welche neuen mir angewöhnen? Was hält mich eigentlich gesund und in meiner Mitte? Was brauche ich? Mehr Natur und Stille oder mehr Gleichgesinnte um mich herum? Ein sinnvolles Projekt, das mich zentriert und das mir hilft, kreativ auf Abstand zu gehen? Weniger Nachrichten zu hören und zu sehen oder mich tiefer mit wesentlichen Aspekten des Themas zu befassen? Es ist auch hilfreich, um die Menschen besser zu verstehen, die viele Ängste haben und diese nun unbewusst auf das Virus projizieren, um sich nicht mit ihren eigenen inneren angstmachenden Themen auseinanderzusetzen. Oder die vor lauter Überarbeitung nicht die Zeit, die Kraft finden, Tagebuch zu schreiben, innezuhalten, Widersprüche zu erkennen, sich zu besinnen und nachzudenken. Die vielleicht übermüdet oder eingeschüchtert sind und einfach nur glauben, was sie zufällig hören oder im Fernsehen sehen.

Schließlich bemerken Tagebuchschreibendende, wenn sie zurückblättern, dass sie sich selbst auch hin und wieder geirrt haben. Dass sie vielleicht viele Dinge gesehen und bemerkt haben, doch andere übersehen, nicht geahnt oder in ihren Dimensionen falsch eingeschätzt haben. Niemand ist unfehlbar. Aber der Selbstdialog des Schreibenden befähigt auch hier leichter zum Dialog mit anderen als ein unhinterfragter moralischer Überlegenheitsgestus. Durch das Schreiben übt man sich darin, die richtigen Worte zu finden und obendrein den rechten Zeitpunkt für einen Dialog abzuwarten. Was zu einem Zeitpunkt ungehört verhallt, kann zu einem anderen auf offene Ohren treffen. Eine kleine Bemerkung kann manchmal mehr bewirken als eine lange Rede. Man hat immer die Möglichkeit, sich einzumischen oder auch bei und für sich zu bleiben. Da man sich im Tagebuch aussprechen kann, hat man keine innere Not, dem anderen unbedingt seine Sicht aufnötigen zu müssen. Man kann warten.

Das Tagebuch kann einen nicht zuletzt auch lehren, die Grenzen der eigenen Zuständigkeit zu erkennen. Man kann über sich und sein eigenes Leben entscheiden, aber nicht über das von anderen, vielleicht sogar geliebten Menschen. Es gibt im Leben ohnehin zwar erkennbare größere oder kleinere Wahrscheinlichkeiten, aber dennoch keine Eindeutigkeit.

Wenn dann sogenannte „Impfungen“ mit einer gänzlich neuen Technologie ebenfalls als „alternativlos“ angepriesen werden – obwohl es Medikamente und andere medizinische Möglichkeiten der Behandlung gibt, können sich Tagebuchschreibende fragen: Wer preist diese Impfungen an? Wer verdient daran? Wer äußerst Bedenken? Wie sicher werden sie sein? Wie nützlich? Wer wird von ihnen geschützt? Wer braucht überhaupt einen Schutz? Für einen alten und schwer vorerkrankten Menschen ist es vielleicht sinnvoll, sich damit „impfen“ zu lassen. Aber ist es nicht leichtsinnig oder sogar fahrlässig, diese Stoffe ohne vorherige Langzeitstudien an gesunden Kindern auszuprobieren, für die Covid in aller Regel gar nicht gefährlich ist?

Nicht zuletzt kann man seinem Tagebuch auch den Schmerz anvertrauen, vielleicht mitansehen zu müssen, wie andere, womöglich sogar nahestehende Menschen Entscheidungen treffen, die sie selbst oder ihre Kinder verletzen oder schädigen können. Es gilt hier, auch wenn es schwerfällt, immer wieder die eigenen Grenzen zu erkennen, zwar einerseits Gesprächsangebote zu machen, aber andererseits die Freiheit des anderen anzuerkennen. Am Ende kann sich jeder informieren, kann nachdenken und in sich gehen, kann das für wahr oder wahrscheinlich halten, was er will. Aber er oder sie wird auch ganz allein die Konsequenzen tragen müssen und kann später nicht sagen, man habe von allem dem nichts gewusst.

Insofern gilt es in jedem Moment die Verantwortung für sich selbst, sein eigenes Leben und seine Entscheidungen zu übernehmen und sich nicht zu wundern, wenn sich die Dinge am Ende ganz anders darstellen als zuvor gedacht. Erkenntnis muss man erringen. Sie wird einem nicht auf dem Silbertablett serviert. Aber das Tagebuch kann einem auf diesem Weg ein unbestechlicher Begleiter sein, nicht zuletzt, um Ohnmachtserleben und Allmachtsvorstellungen gleichermaßen zu widerstehen. Das Tagebuch wird erst ganz am Ende zugeklappt. Insofern kann man aus jeder Krise auch gestärkt hervorgehen.

 

Erstveröffentlichung im NACHHALL Nr. 23 https://nachhall.net/tsl02