Was ist eigentlich die Liebe? Eine große Frage, an der sich schon viele große und nicht ganz so große Geister versucht haben. Dennoch will ich sie noch einmal in den Raum stellen und eine oder mehrere Antworten versuchen. Es geht hier um die moderne Liebe, die Liebe, die mit Leidenschaft und Leiden einhergeht, ein Gefühlsgebilde. Wenn ich hier von Liebe spreche, dann meine ich in erster Linie die Liebe zwischen zwei Partnern, meist Mann und Frau, und nicht die Liebe zwischen Eltern und Kindern oder die Liebe zur Kunst oder Ähnliches. Auch wenn es sich bei all diesen Empfindungen auch um Liebe handelt, keine Frage, aber sie sind hier nicht Thema. Ich meine die Liebe, bei der es auch um Sex geht, wenn auch nicht nur.
Liebe ist nicht Verliebtheit, aber etwas, was aus Verliebtheit hervorgehen kann. Liebe ist auch nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine Geisteshaltung, mit der ich meinem Liebespartner begegne. Liebe ist auch eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die tägliche Herausforderung anzunehmen, meinen Partner lieben zu wollen. Aber wie wird die Liebe in Partnerschaften, die sich Liebesbeziehungen nennen, tatsächlich gelebt?
Definition meines Themas
Wie können wir diese Form der partnerschaftlichen Liebe in Worte bringen? Irgendwo habe ich einmal sinngemäß folgende Definition gehört, die ich gut annehmen konnte.
„Es ist das Bestreben, dem geliebten Menschen zu helfen, er selbst zu sein, so wie Gott oder die Natur ihn gemeint hat.“ Vermutlich ist es eine freie Formulierung dessen, was Dostojewski zugeschrieben wird. „Einen Menschen zu lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“
Beide Formulierungen legen uns nahe, dass Liebe nicht egoistisch sein kann, sondern vielmehr selbstlos. Der Geliebte steht im Mittelpunkt, nicht der Liebende. Diese Selbstlosigkeit ist aber kein Opfer, das der Liebende erbringt, denn wenn wir lieben und den geliebten Menschen in seinem Glück zu fördern versuchen, dann empfinden wir das keineswegs als Opfer, sondern als eigene Glücksmehrung. Doch wir erleben, wenn wir lieben, nicht unsere eigene Glücksmehrung als Antrieb, sondern die des Partners. Dass uns das glücklich macht, ist eher ein willkommener Beifang. Wobei die Unterscheidung wessen Glück hier die Motivation ist, verschwimmen muss. Denn wenn es uns beglückt, wenn unser Tun den Partner beglückt, dann ist ja seine Glücksmehrung auch die unsere und dann ja auch irgendwie doch unser Antrieb. Wir sehen schon: Das Thema ist schwer zu fassen. Egal. Der Weg soll unser Ziel sein. Meine Mutter sagte gern, in der menschlichen Seele höre die Kausalität auf. In der Liebe scheint mir das der Fall zu sein. Dies zeigt sich auch darin, dass sie häufig ebenso glücklich wie unglücklich macht. Zur gleichen Zeit, wohlgemerkt. Etwa in Form von Sehnsucht.
Das selbstlose Wesen der Liebe finden wir auch im neuen Testament im Hohelied der Liebe im 1. Brief von Paulus an die Korinther. Dort heißt es unter anderem:
„Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit,
sie erträgt alles, sie glaubt alles,
sie hofft alles, sie duldet alles.“
Ich habe zwar den Verdacht, dass hier wohl nicht die moderne Liebe gemeint ist, aber diese Charakterisierung der Liebe enthält viel Treffendes, bezogen auf unser Thema. Die Liebe scheint eine Art Superkraft zu sein, die uns über uns hinauswachsen lassen kann. „Faszinierend!“, würde Mr. Spock sagen und irritiert die Augenbrauen hochziehen.
Aber… ja, es gibt ein Aber.
Anwendung der Liebesdefinition auf das konventionelle Beziehungskonzept
Wenn man diese Versuche einer Liebesdefinition nun anwendet auf das, was heutzutage angeblich im Namen der Liebe in unserer und anderen Kulturen geschieht, dann komme ich nicht umhin zu erkennen, dass die Liebe häufig verraten wird. Denn im traditionellen Modell von Partnerschaft und Ehe geht es durchaus lieblos und egoistisch zu. Der Partner hat sich ungeachtet seiner Bedürfnisse in die Treueformel zu fügen. Zu Anfang fällt das leicht, weil die Verliebtheit dafür sorgt, dass ich keine anderen Bedürfnisse habe als die, die ich auf meinen Partner anwende. Doch was kommt dann? Dann wird die Liebe häufig verraten.
Allen voran von der Kirche selbst. Das einmal gegebene Versprechen muss eingehalten werden. Auch wenn die Partner sich nicht liebevoll zueinander verhalten können. Mit gegangen, mit gehangen. Kein besonders liebevoller Ansatz. Vielmehr ein gnadenloser. Immerhin ist es heute keine Schande mehr sich scheiden zu lassen und hat nicht mehr den gesellschaftlichen Tod zur Folge. Ein kirchliches Lösungskonzept ist Scheidung allerdings nach wie vor nicht, eher eine geduldete Notlösung. Die Kirche hat keine fortschrittlichen, neuzeitlichen Lösungskonzepte für Beziehungsfragen, im Gegenteil: das alte Konzept wird auf gleichgeschlechtliche Beziehungen ausgeweitet, ungeachtet der Erfahrung, dass die Scheidungsraten dem Konzept keine Empfehlung ausstellen. Das sei hier aber nur am Rande erwähnt. Die Ehe ist deshalb bis heute der Prototyp der moralisch und sozial akzeptierten Liebesbeziehung und es fällt uns schwer die Liebe anders zu denken. Und zwar ganz anders. Scheinbar haben wir dieses Ehekonzept zwar in den 60er Jahren verlassen, doch bei Lichte betrachtet, haben wir es nur ersetzt durch die gleichen Normen unter anderem Namen, „Ehe ohne Trauschein“ oder „wilde Ehe“ etwa. Ein Etikettenschwindel quasi. Denn die Liebesbeziehung blieb trotz sexueller sogenannter Revolution überwiegend ein geschlossenes Zweierkonzept. Alles andere galt und gilt als Verrat am Partner. Doch ist es das wirklich? Können wir nicht auch ganz anders darüber nachdenken? Ich kann und lade dich ein, es auch einmal zu versuchen.
Poblematik des monoamoren Beziehungskonzeptes
Diese Normen, also Ehe und ein Ausschließlichkeitsanspruch in Form von sexueller Treue, sind mit den obigen Definitionsversuchen der Liebe also nicht vereinbar. Was meine ich damit? Ich meine, wir sollten uns fragen, was die Liebe tun würde, wenn wir herausfinden wollen, woran Liebesbeziehungen häufig scheitern. Egal wie sehr wir versuchen daran vorbeizusehen: wenn unser Partner Entwicklungswünsche hat, dann ignoriert die Liebe, so wie ich sie verstehe, diese nicht. Tatsache bleibt, dass viele Menschen offenbar Gründe haben, die getroffenen Vereinbarungen zu missachten. Deshalb wird so viel fremdgegangen und gehen so viele Beziehungen in die Brüche. Warum gehen Menschen fremd? Eine Antwort könnte sein, dass ihre Entwicklungsbedürfnisse im gelebten Beziehungskonzept keinen Platz finden. Ungelebte und unerfüllte Bedürfnisse scheinen aber eine gewaltige Energie entwickeln zu können, die irgendwann nicht mehr zu beherrschen ist. Wenn sich dann irgendwo die Erfüllung dieser Bedürfnisse in Aussicht stellt, dann betrügt man seinen Partner oder seine Partnerin und die Beziehung ist meist schwer beschädigt, das Vertrauen unheilbar verletzt. Oft geht es dann in die nächste Runde: Trennung, neue Beziehung, wieder mit einem exklusiven Anspruch, und oft dann irgendwann wieder Fremdgehen, Trennung, usw. Natürlich trennen sich Paare auch aus anderen Gründen als der sexuellen Untreue. Etwa wenn das Ideal, dass einer der beiden auf den anderen projiziert hat, nicht mehr mit der erfahrbaren Realität vereinbar ist, nachdem die rosarote Brille auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Doch auch da ist unter Umständen bei näherer Analyse festzustellen, dass nicht der Partner das Problem ist, sondern das, was wir im konventionellen Konzept von ihm fordern: mach mich glücklich und sei dafür anders als du bist! Die Liebe würde das Sosein des Partners erst einmal als gegeben annehmen: Aha, so ist das bei dir. Ohne die Wertung und damit einhergehende Forderung, dass mein Partner so nicht zu sein hat, weil ich ihn anders vermutete. Wenn wir unseren Partner so lieben können, hat er keinen Grund sich von uns abzuwenden, selbst wenn er sich zu jemand anderem hinwendet. Dann gibt es kein „entweder du oder jemand anderes“, sondern es gibt ein „du und jemand anderes“. Ein sich Hinwenden zu jemand anderem ist eben nicht automatisch ein sich Abwenden von meinem Partner. Doch in den meisten Beziehungen geht es in diesem Sinne nicht sehr liebevoll zu und wir sollten uns klar machen, dass es ein unerfüllbarer Anspruch an unseren Partner ist, uns in allem für immer glücklich zu machen. Das Konzept ist das Problem, nicht der vermeintlich unzulängliche Partner. Oder wir müssen der Erkenntnis ins Auge sehen, dass jeder Partner unzulänglich ist, weil er ein Mensch ist.
Polyamorie als alternatives Beziehungs- und Liebeskonzept
Ginge das nicht viel besser? Ich meine ja. Das Konzept heißt Polyamorie. Als ich den Begriff zum allerersten Mal gehört habe, war er als Witz gemeint und mir war gar nicht klar, was in diesem Wort für ein Potential steckt. Einige Jahre mussten noch ins Land gehen, bis ich so weit war.
Was ist Polyamorie? Wörtlich ist es die „Viel-Liebe“ im Gegensatz zur „Monoamorie“ oder geläufiger als Monogamie bezeichnet, was wörtlich „Einehe“ bedeutet. Ich spreche hier im weiteren Verlauf von Monoamorie, da viele Paare ja nicht verheiratet sind, aber ihre Beziehung die gleichen strukturellen Merkmale aufweist wie eine Ehe. Es geht bei der Polyamorie nicht um die Duldung sexueller Untreue. Es geht vielmehr um eine Definition von Liebe, die nicht exklusiv ist. Diese Idee ist nicht neu und die Mehrheit der menschlichen Gesellschaften sind nicht monogam organisiert. Das bedeutet aber nicht, dass die Mehrheit der Menschen nicht monogam organisiert sind. Die „Welt“ schreibt am 28. August 2016, dass es laut einer Erhebung aus dem Jahre 1960 849 menschliche Gesellschaften gibt, von denen 712 nicht monogam organisiert sind. Allerdings war die überwältigende Mehrheit von 708 Gesellschaften so organisiert, dass Männer mehrere Frauen haben durften und nur 4 so, dass Frauen mehrere Männer haben durften.
Wer polyamor denkt und lebt, geht davon aus, dass man mehr als einen Menschen zur gleichen Zeit lieben kann. So wie eine Mutter oder ein Vater mehrere Kinder gleichzeitig lieben kann. Jedes auf eine einzigartige Weise. Niemand würde auf die Idee kommen, das erste Kind zu verstoßen, weil ein zweites kommt. Es geht also um ein offenes Zweierkonzept. Das bedeutet, es finden sich zwar Paare zusammen, aber nicht exklusiv, also die jeweiligen Partner können in einer (oder mehreren) weiteren Zweierbeziehungen gebunden sein. Alle Beziehungspartner wissen dabei voneinander. Polyamorie ist nicht synonym zum Begriff der offenen Beziehung, bei der es eher um die Akzeptanz von sexuellen Aktivitäten außerhalb der Paarbeziehung geht, aber nicht um weitere dauerhafte Liebesbeziehungen. Wer polyamor denkt, für den hat die Liebe zu einem Menschen nichts mit Besitzdenken zu tun, sondern viel mehr mit Freiheit, also mit dem Gegenteil von partnerschaftlichem Besitzdenken. Ich erkenne meinen Partner als autonomes Wesen an. Wenn ich ihn auf diese Weise lieben will, dann muss ich ihn so sein lassen können, wie er ist bzw. wie er sein möchte, wenn er ganz er selbst ist. Ich liebe dann ohne Erwartungen. Jemanden so zu lieben bedeutet nämlich nicht, dass ich alles an ihm mag, sondern viel mehr, dass ich das Gesamtkunstwerk dieses Menschen liebe, obwohl ich Anteile wahrnehme, die mir nicht so sehr gefallen. Ich nehme diesen Menschen so an, wie er ist. Ich bekenne mich zu ihm. Ich kann Wünsche in die Beziehung einbringen, aber niemals Forderungen. Jens Corssen, Diplom-Psychologe und Verhaltenstherapeut aus München, hat es so formuliert: „Beziehung ist ein Wachstums- und kein Erlösungsort.“ (1)
Erlösung ist in Beziehungen zwar durchaus zu finden, aber als Zweck und Anspruch an Beziehungen ist Erlösung kontraproduktiv. Was ist damit gemeint? Beziehung ist ein Ort, der mir Herausforderungen im Angesicht meines Partners bieten und abverlangen kann, an denen ich im besten Falle wachse. Jens Corssen ist kein Verfechter der Polyamorie, liefert uns aber ungewollt mit dieser Aussage über Beziehung eine Steilvorlage für diese Idee. Wenn ich Erlösung als Anspruch in meiner Partnerbeziehung geltend mache, dann stehle ich mich aus der Eigenverantwortung für mein Glücklichsein. Ich bin für mein Glück aber letztlich selbst verantwortlich. Wenn ich diese Verantwortung abgebe, bin ich abhängig vom Partner und nicht mehr autonom. Wenn ich aber Verantwortung für mich übernehme, dann habe ich die Fäden in der Hand. Ich bin die Chefin in meinem Leben. Die Verantwortung für mein Glück liegt immer bei mir. Niemand ist für meine Gefühle verantwortlich außer ich selbst. Niemand erzeugt in mir meine Gefühle außer ich selbst.
Ich kann meine Gefühle zwar nicht an und abstellen, aber ich kann entscheiden, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe, welche Haltung ich dazu einnehme. Dann kann ich mich auch an der Entwicklung des Glücks meines Partners erfreuen. Denn das Glücklichsein meines Partners ist dann nicht automatisch mein Glück oder Unglück, egal worin sein Glück besteht. Meine Einstellung zu seinem Glück kann mein Glück mehren oder mindern. Ich komme darauf später noch zurück. Jetzt geht es erstmal um den theoretischen Überbau, später erläutere ich wie das bei uns gelebt wird.
Wertekanon der beiden Konzepte
Was sind die Merkmale eines polyamoren Beziehungskonzeptes?
Dazu möchte ich zuerst die Werte von Polyamorie denen der Monoamorie gegenüberstellen:
Diese Gegenüberstellung macht deutlich, wo die Ursache für das häufige Scheitern von monoamoren Beziehungen liegen könnte. Wenn Verträge und Vereinbarungen über die eigentlichen Bedürfnisse gestellt werden, dann hat ein Partner, der Bedürfnisse hat, die nicht mit den oft unausgesprochenen Vereinbarungen konform gehen, ein vermeintlich unlösbares Problem. Obwohl beide Konzepte Ehrlichkeit als Wert postulieren, wird dieser Wert im monoamoren Konzept konterkariert durch den gleichzeitig gültigen, absoluten und nicht verhandelbaren Wert der Gültigkeit des zu Beginn der Beziehung geschlossenen Vertrages. In grundsätzlichen Punkten, wie etwa der emotionalen und sexuellen Treue, ist dort kein Verhandlungsspielraum vorgesehen. Es heißt in Anlehnung an das 6. und 10. Gebot, „liebe und begehre keinen anderen“. Dies ist, nebenbei bemerkt, kein Gebot, sondern ein Verbot. In der Polyamorie aber wird daraus ein Wunsch: „Bitte liebe mich.“ Der Unterschied ist, dass der Wunsch in mir vorhanden ist und dort bleibt. Eine Forderung hingegen sende ich nach außen, um sie beim Partner zu platzieren. Würde ich das von meinem Partner fordern, dann könnte ich es nicht mehr bekommen. Ich möchte aus freien Stücken geliebt werden und nicht aus Pflichterfüllung. Eine Liebe auf Verlangen verliert ihren Wert. In diese Falle tappen viele Paare und zementieren unter Umständen so ihr Unglück. Wie leicht aber kann ich jemanden lieben, der mich mit allem, was ich mitbringe, annimmt! Auch mit meinen sexuellen Wünschen, die mein Partner nicht erfüllen kann oder will. Da wird es für die meisten schwierig. Sex ist ein, ja offenbar der, höchstdotierte Wert in monoamoren, partnerschaftlichen Liebesbeziehungen. Und das paradoxerweise selbst dann, wenn er in der Beziehung gar nicht mehr stattfindet. Wenn aber Sex und die Erfüllung sexueller Bedürfnisse einen so hohen Wert bedeuten, dann ist es doch ganz und gar nicht liebevoll dem geliebten Partner diesen hohen Wert, die Erfüllung dieses wichtigen Bedürfnisses nicht zuzugestehen. Der Sänger Sting wusste es besser als er sang: „If you love somebody, set them free“. (Wenn du jemanden liebst, lass ihn frei.) Und doch: Sich dieses Bedürfnis außerhalb der Partnerschaft zu erfüllen erscheint undenkbar. Warum ist das so? Entwicklungsgeschichtlich ist es vermutlich die Sorge um die Versorgung des eigenen Nachwuchses, seit der Sesshaftwerdung auch um die Weitergabe des Erbes an nur den eigenen biologischen Stammhalter, die sich tief in unser Bewusstsein eingebrannt hat und dort eine inzwischen von den realen Gegebenheiten losgelöste Daseinsberechtigung zu haben scheint. Natürlich hat auch die Kirche und die von ihr geradezu erpresserisch eingeführten moralischen Werte einen immensen Einfluss auf die soziale Akzeptanz dieser Konvention gehabt. Wer sündigt, der kommt in die Hölle.
Da hilft es nur neu nachzudenken. Könnte es heute nicht auch ganz anders sein? Was wäre möglich, wenn Sex nur ein Wert unter vielen wäre?
Wir brauchen also einen alternativen Wertekanon. Dieser ist oben in der rechten Tabellenseite zu finden. So wie ich das polyamore Konzept verstehe, geht es darum die Liebe durch ihre Befreiung erst möglich zu machen. Die Liebe kann, wenn wir ihr keine Grenzen setzen, frei fließen. Was bei den meisten herkömmlich denkenden Menschen Eifersucht hervorruft, kann auch genau das Gegenteil bewirken. Wenn ich nicht angebunden werde, hat mein Partner die Chance zu erfahren, dass ich nur aus einem einzigen Grund seine Partnerin sein will: weil ich es will. Und nur dann kann er das erfahren. In dem Moment, wo er mich anbindet, weiß er nicht, ob ich wirklich bei ihm bleiben will. Er weiß nicht, ob ich gehe, wenn er mich frei gibt. Es erfordert Mut und Größe diese Prüfung anzunehmen. Doch es lohnt sich. Nicht zuletzt deshalb, weil eine eingesperrte Liebe oft in einer Trennung mündet oder, was ich fast noch schlimmer finde, in vertrockneten und verkümmerten Beziehungen, einem berührungslosen Nebeneinanderleben, in Einsamkeit zu zweit. Solche Paare sind nur noch aus Gewohnheit zusammen und aus Angst vor dem Alleinsein. In dieser Atmosphäre kann keine Liebe gedeihen. Eine freigelassene Liebe zeigt sich in Loyalität zum Partner. Ich erkenne meinen Partner in seinem ganzen Sein und nehme ihn darin an. Ich stehe zu meinem Partner in jeder Lebenslage. Er kann sich auf mich verlassen. Das ist wahre Treue. So kann aus „Ich liebe nur dich“ werden „Ich liebe dich, egal wen ich sonst noch liebe“ und aus „Liebe keinen anderen“ kann werden „Liebe mich, egal wen du sonst noch liebst.“ Ich könnte auch sagen aus Liebesverhalten, also sexuell und anderweitig treu sein, wird Liebe mit Gehalt, mit Substanz. Wer mit keinem anderen Sex hat, ist verhaltensmonoamor, er oder sie verhält sich monoamor, aber mehr unter Umständen nicht. Alle unerfüllten Wünsche strafen das Verhalten Lügen. Wenn ich meinen Partner aber so frei liebe, dann erkenne ich ihn in seiner Autonomie an. Ich trete ohne Erwartungen und Forderungen an ihn heran, stattdessen mit ehrlichem Interesse für seine Bedürfnisse und Eigenschaften. So zeigen sich beide Partner für die Beziehung, die diese beiden miteinander haben, verantwortlich. Beziehung ist eben nichts, was wir haben, sondern etwas, was wir führen müssen. In polyamoren Beziehungen werden immer wieder die Verbindlichkeiten in Frage gestellt und neu ausgehandelt. Es wird nicht vor dem Altar einmal ja gesagt und ein Vertrag geschlossen, sondern die Partner sagen jeden Tag aufs Neue ja zueinander. Jeden Tag wieder darf die Frage gestellt werden: Wie wollen wir unsere Liebe gestalten? Dies ist eine Form von Verantwortung, die beide für die Beziehung übernehmen. Was wie einvernehmlich möglich ist, muss gemeinsam gefunden werden. Dann hat auch die Ehrlichkeit freie Bahn und so kann Vertrauen wachsen. Vertrauen in die Liebe. Eifersucht verliert dann ihre Grundlage. Verlustangst verliert ihre Ursache.
Exkurs:
Loyalität hat natürlich Grenzen. Ein Partner, der das Haushaltsgeld verspielt, meine Kinder misshandelt oder andere, sagen wir, Kapitalverbrechen der Beziehung begeht, dem gegenüber muss ich mich nicht loyal zeigen. Es gibt Situationen im Leben, wo es um das elementare Überleben geht. Solche Beziehungen meine ich hier nicht. Das ist ein anderes Thema. Ich möchte meine Ausführungen ausdrücklich davon abgrenzen.
Exkurs Ende
Nun denkst du dir vielleicht, das hört sich ja alles in der Theorie sehr interessant an, aber wie sieht das Leben in einer polyamoren Beziehungskonstellation im Alltag aus? Kann das funktionieren?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich gern erzählen, wie ich überhaupt zur Polyamorie gefunden habe.
Unsere Geschichte
Dazu muss ich weiter ausholen.
Bevor ich geheiratet habe, hatte ich einige Beziehungen zu jungen Männern gehabt und die jeweiligen körperlichen Begegnungen in diesen Beziehungen haben mir viel Freude bereitet, ja waren immer sehr berauschend schön gewesen. Ich war, was das anging, abenteuerlustig. Ich wollte Sex. Ich gehöre zu einer offenbar sehr seltenen Sorte Frau, nicht weil ich Sex wollte, sondern weil ich in diesem Bereich nie eine schlechte oder gar traumatisierende Erfahrung gemacht habe. Sex war und ist für mich immer nur mit Lust verbunden, nicht mit Angst oder anderen aversiven Gefühlen. Da ich aus einer diesbezüglich fortschrittlichen und recht freien Familie komme, hatte ich gute Voraussetzungen meine Sexualität altersgerecht und in mir gemäßem Tempo zu entwickeln.
Mit 21 Jahren kam ich mit meinem jetzigen Ehemann zusammen. Nennen wir ihn Robert. Fast 4 Jahre später haben wir geheiratet. Der Anlass war, dass ich schwanger war, der Grund war, dass wir ein Leben lang zusammenbleiben wollten. Ich habe meine große Liebe geheiratet und hatte mir vorgestellt, dass so eine Liebe ein ganzes Leben andauert. Robert und ich kennen uns schon sehr lange, da wir das gleiche Gymnasium besucht haben. Ich hatte einen Partner fürs Leben gesucht und ich wollte Kinder mit ihm. Das Modell hieß AMEFI (Alles Mit Einem Für Immer), auch wenn ich den Begriff damals nicht kannte. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es auch noch etwas anderes gibt, außer der Monoamorie. Ich hatte das nicht hinterfragt. Wir haben drei Kinder bekommen und haben Krankheit, Insolvenz und was einem das Leben sonst noch so vor die Füße zu werfen pflegt, gemeinsam durchgestanden und waren in unserem gemeinsamen Leben ein erfolgreiches Team. Es gab zwischen uns praktisch nie Streit, wir haben uns gegenseitig liebevoll durch den Alltag begleitet, über 25 Jahre lang. In den wichtigen Fragen unseres Lebens sind wir uns einig gewesen. Dennoch haben wir uns als Paar auf unserem gemeinsamen Weg irgendwo verloren und trotz diverser Versuche Zeit und Raum für uns als Paar zu schaffen, blieb auch der Sex schließlich komplett auf der Strecke. Robert ist jahrzehntelang selbstständig gewesen und war irgendwann nur noch im Arbeitsmodus. Unsere drei Kinder im Haus taten ein Übriges. Es gab immer öfter Streit wegen Nichtigkeiten. Ich war unzufrieden und das schlug sich im Nachhinein betrachtet in diesen kleinen Konflikten nieder, die in der Regel von mir angezettelt wurden. Aber das war mir damals nicht klar. Es waren meine hilflosen Versuche mit Robert in Kontakt zu kommen. Ich wollte als Frau, als Felicitas, gesehen werden und nicht nur als Mutter unserer Kinder. Eigentlich ein Klassiker, so entwickeln sich viele langfristigen Beziehungen. Ich dachte lange Jahre ich will keinen Sex, aber in Wahrheit war es so, dass ich nur den Sex mit Robert irgendwann nicht mehr wollte, weil wir nicht mehr als Beziehungspartner in Kontakt waren. Aber wenn ich mir dieser Lust auf Sex mit jemand anderem gewahr geworden wäre, dann hätte ich ein Riesenproblem gehabt, ohne auch nur im Entferntesten ein Lösungsszenario dafür zu haben. Den Kontakt zu Robert wieder herzustellen, schien nach vielen Versuchen, die keine dauerhafte Besserung bewirkt hatten, unerreichbar. Sex mit jemand anderem sah das AMEFI Konzept natürlich nicht vor. Betrügen war keine Option für mich.
Dann bekam ich in 2016 ein völlig unerwartetes Seitensprungangebot und mir wurde rasend schnell klar, dass ich Sex will, aber nicht mit Robert.
Ich hatte irre Lust auf diesen anderen Mann, nennen wir ihn Ingo. Ich hatte mich verliebt. Ich bin trotzdem nicht darauf eingegangen, sondern bin zu Robert gegangen und habe ihm erzählt was los ist. Das hat mich mehr als viel Mut gekostet, aber ich wollte mich ja nicht von ihm trennen und ich hätte sonst alles kaputt gemacht, wenn ich auf das Angebot eingegangen wäre und das wäre nicht rückgängig zu machen gewesen. Das war mir klar und das wollte ich auf keinen Fall. Zu diesem Zeitpunkt waren wir über 30 Jahre ein Paar, das wollte ich nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Robert war mir immer ein zuverlässiger Partner gewesen und ein wunderbarer Vater für unsere Kinder und ist beides bis heute. Ich konnte nur schwer einschätzen, wie er reagieren würde. Ich hielt alles für möglich. Aber ich konnte und wollte meine emotionale Verwirrung und Hilflosigkeit nicht verbergen. So trat ich die Flucht nach vorn an. Robert hat auf diese unerwartete Nachricht sehr besonnen reagiert und so hat mein Geständnis in unserer Beziehung die Wende zurück zur wirklichen Begegnung gebracht: lange ehrliche Gespräche über unsere Bedürfnisse, auch sexuell, und das Besondere an diesen Gesprächen war: es gab keine Vorwürfe. Robert sagte, als ich ihm berichtete, dass es da einen anderen Mann in meinem Herzen gibt: „Das musste irgendwann so kommen, dass einer von uns sich nach außen orientiert.“ Damit waren mir zwei Dinge sofort klar. Erstens, dass er genau wie ich das Schiff unserer Beziehung als angeschlagen und führungslos wahrgenommen hatte, und zweitens, dass er mir keinen Vorwurf wegen meiner Gefühle machte. Die Atmosphäre war plötzlich ganz friedlich und eher traurig, es gab keinerlei Streit oder aggressive Auseinandersetzung. Da war wieder etwas Verbindendes. In dieser friedlich traurigen Stimmung lebten wir die nächsten drei oder vier Tage. Und jeden Abend, wenn Robert von der Arbeit kam, sprachen wir weiter über uns. Das war eine schöne und traurige Zeit. Schön, weil wir wieder Verbindung hatten, was eine Erlösung war, und traurig, weil wir uns das Scheitern unserer Ehe, jedenfalls in gewisser Hinsicht, eingestehen mussten. Wir hatten uns jedenfalls in den vergangenen ca. 10 Jahren so weit verloren, wie wir uns doch geschworen hatten, dass es nie passieren sollte. Es war uns nicht gelungen. Diese Gespräche hatten eine heilsame Wirkung und der Sex ließ nicht lange auf sich warten. So hatten wir eine sehr schöne Verliebtheitsphase nach über 30 Jahren Beziehung.
Was mich sehr überrascht hatte, war die Erfahrung, dass ich nach wie vor heftige Gefühle für Ingo hatte, während ich mich noch einmal ebenso heftig in Robert verliebte. Ingo hat sich dann komplett von mir zurückgezogen. Es hatte keinerlei Körperkontakt zwischen uns gegeben, doch sein unerwarteter kompletter Rückzug war sehr schmerzlich für mich. Trotz meiner reanimierten Ehe habe ich aber schnell gemerkt, dass die Felicitas, die vor der Ehe so abenteuerlustig war, immer noch genauso abenteuerlustig ist. Ich hatte wieder Zugang zu diesen, meinen Bedürfnissen. Nun war aber die Atmosphäre zwischen Robert und mir so, dass ich mit ihm darüber sprechen konnte, denn seither erlebe ich unsere Beziehung als gereift. Wir sind viel besser in der Lage über uns und unsere Beziehung wirklich klar zu sprechen. Wir können besser Bedürfnisse und Wünsche wahrnehmen und sie dem anderen mitteilen, ohne zu werten. Das bedeutet keineswegs, dass es keine Konflikte gibt, aber die Auseinandersetzung über sie ist konstruktiv und es kommt alles auf den Tisch. Unsere Beziehung hat keine Leichen mehr im Keller, in Form von z. B. unausgesprochenen Erwartungen, Bedürfnissen oder Ängsten. So habe ich Robert nach einiger Zeit gesagt, dass ich nach wie vor diese Abenteuerlust in mir spüre und mich die Vorstellung, dass ich den Rest meines Lebens nur Sex mit ihm habe, eher beunruhigt. Er hat das als Bedürfnis von mir verstehen können, das nicht in erster Linie etwas über ihn aussagt, sondern über mich. So war die Idee im Raum das sexuelle Treuegebot aufzugeben. Er selbst hatte kein Interesse an einer sexuellen Begegnung außerhalb unserer Beziehung.
Ich kann es gar nicht mehr genau chronologisch rekapitulieren, aber ich habe dann verschiedene Internetseiten gefunden, die sich mit dem Thema Polyamorie beschäftigen und verschiede Bücher gelesen. Ich möchte hier nur drei Quellen beispielhaft herausgreifen. Das Buch von Friedemann Karig „Wie wir Leben – Vom Ende der Monogamie“. (2) Dort kommen verschiedene Paare zu Wort, die die Monoamorie verlassen haben und ihren Weg und ihre Erfahrungen schildern. Einer von ihnen ist Viktor Leberecht (Pseudonym). Sein Polyamoriemagazin im Internet war eine Quelle zu weiteren Netzwerken. Leider gibt es seine Seite in der damaligen Form nicht mehr. Sehr beeindruckt und inspiriert hat mich auch das Buch „Treue ist auch keine Lösung – Ein Plädoyer für mehr Freiheit in der Liebe“ von Lisa Fischbach und Holger Lendt. (3) Meine Recherchen führten mich überhaupt erst auf den Begriff der Polyamorie als einem alternativen Beziehungskonzept und unter anderem auf eine Dating Plattform für polyamor lebende und denkende Menschen. All das hat mich z. T. verunsichert, aber auch sehr fasziniert.
Plötzlich tat sich ein Meer neuer Möglichkeiten auf. Alles, was sich bei uns bis heute daraus entwickelt hat, beruht auf den Säulen, die ich oben in der Tabelle angedeutet habe: Loyalität, Verbindlichkeit, Einvernehmlichkeit, Ehrlichkeit und Vertrauen.
Wie ging es dann weiter?
Da ich durch das Seitensprungangebot von Ingo die Erfahrung gemacht hatte, dass in meinem Herzen Platz für mehr als einen Mann ist, war für mich die Idee der Polyamorie als mögliche Beziehungsform für Robert und mich durchaus denkbar. Und Robert hat sehr schnell dazu ja sagen können, weil unsere Beziehung geklärt war und er verstanden hatte, dass ich mich nicht von ihm wegbewege, wenn ich zu jemand anderem hinstrebe. Er hat mich erkannt in meinem Bedürfnis und darin angenommen. Ich fühle mich sehr geliebt von Robert. Über meinen zweiten Partner, nennen wir ihn Wilhelm, bin ich quasi gestolpert, bevor ich überhaupt ernsthaft angefangen hatte zu suchen. Da war auch viel Glück dabei. Ich habe ihn in einer Diskussion in einem Internetforum, das sich mit Polyamorie beschäftigte, kennengelernt. Nach einigen Wochen des E-Mail-Schreibens waren wir uns einig, dass wir uns treffen wollten. Bevor ich das erste Treffen mit Wilhelm vereinbart habe, hatte ich Robert gesagt, dass ich nicht wüsste, was beim Treffen mit Wilhelm passieren würde, aber ich wüsste, dass ich nichts wieder rückgängig werde machen können. Und dann habe ich Robert ganz klar gefragt, ob er einverstanden ist, dass ich Wilhelm treffe. Er hat ja gesagt.
Für mich war das eine sehr bizarre Situation: nach über 30 Jahren ein Date zu haben. Aber ich wollte es wissen, ob Wilhelm für mich als Mann interessant sein könnte und ich für ihn als Frau. Da Wilhelm über 600 Kilometer weit von mir weg wohnt, war es eine Reise, für die ich mir ein paar Tage Zeit nehmen wollte. Wir haben uns in einer Hotellobby getroffen und das war sehr aufregend für mich. Ich habe viel Zeit gebraucht, um zu wissen, ob ich mehr von ihm wollte als zu reden. Wilhelm hat mir die Zeit gegeben, die ich brauchte, um festzustellen, dass ich mehr wollte. Und wie ich das wollte… Danach war klar, dass wir uns wiedersehen wollen. Das haben wir getan. Seither inzwischen über 60 Mal.
Wie stellt sich unser Leben nun im Alltag dar?
Wilhelm ist etwas älter als Robert und ebenfalls seit über 25 Jahren verheiratet. Er und, nennen wir sie Sabine, haben zwei erwachsene Söhne und sind ohne Treuegebot verheiratet. Da Wilhelm weit von mir entfernt wohnt, haben wir uns regelmäßig in Hotels oder Ferienwohnungen getroffen. Das war eine schöne Zeit. Wir sind durch Deutschland getourt und haben uns einmal im Monat an ganz vielen unterschiedlichen Orten getroffen, um uns zu lieben. Wilhelm will, ebenso wie ich, dort bleiben, wo er wohnt. Die große Entfernung, die anfangs als Schwierigkeit erschien, hat sich als unproblematisch erwiesen. Für meine Beziehung zu Robert war diese große Entfernung von Wilhelm anfangs sogar gut. Unsere Ehebeziehung wurde nicht im Alltag tangiert, das hat uns gutgetan. Gerade am Anfang, wir hatten ja keine Erfahrung mit dieser Lebensform. Wenn ich zu Hause war, dann war ich zu Hause. Kein Wilhelm, der mal eben vorbeikommt. Das wäre zu Anfang schwierig gewesen. Nach einem guten halben Jahr sind sich meine Männer zum ersten Mal begegnet. Wilhelm ist zu uns in den Norden gekommen und hat mich abgeholt. Dabei hat er Robert kennengelernt. Das war einerseits aufregend, aber doch unspektakulärer als man sich das vielleicht vorstellt. Die beiden haben sich ja nicht gleich über ihre Erfahrungen als Partner von mir ausgetauscht, sondern erstmal über Unverfänglicheres gesprochen. Da Wilhelm und ich uns ungefähr alle 3 bis 4 Wochen für einige Tage treffen, ging das Kennenlernen meiner Männer langsam vonstatten, zumal wir uns in den ersten zwei Jahren meist nicht an meinem Wohnort getroffen haben. Es gab nie so etwas wie einen Wettstreit, wer der Bessere ist, da sie beide an derlei Säbelrasseln keinerlei Interesse hatten und haben. Es wird auch heute zwischen Robert und Wilhelm nicht darüber gesprochen, wie die sehr intimen Details der jeweiligen Beziehung aussehen. Aber der Umgang miteinander ist vertraut und freundschaftlich. Sie mögen sich. Es hat eine Normalität bekommen. Als ich in 2020 einen Unfall hatte und Hilfe brauchte, ist Wilhelm gekommen und hat sich hier zuhause um mich gekümmert. Das war auch für Robert eine Entlastung.
Nun könnte man meinen, dass Wilhelm und ich eine Art Wochenendbeziehung führen und daher alles leicht und stressfrei ist, da wir keinen gemeinsamen Alltag haben. Es ist allerdings so, dass wir in der Zeit zwischen den Treffen einen intensiven Austausch pflegen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir quasi zwei Beziehungen führen, eine, wenn wir uns treffen und eine in den Zeiten dazwischen, in der vieles besprochen und aufgearbeitet wird, was wir miteinander erlebt haben.
Da die politischen Umstände unsere Hotel- und Ferienwohnungs-Tour in 2020 verunmöglichten, mussten wir vorübergehend auf Roberts und mein Wohnmobil ausweichen, aber heute ist es ganz normal, dass Wilhelm ab und zu auch hier zu uns nach Hause kommt. Wir kochen abends zusammen und essen zu dritt zusammen. Ich schlafe normalerweise allein und Wilhelm schläft dann natürlich bei mir, wenn er hier ist. Das hat sich mit der Zeit ganz unaufgeregt so entwickelt. Er gehört zur Familie. Natürlich erfordert es Feingefühl und die oben schon erwähnte Reflexionsfähigkeit und Kommunikationskompetenz diesen Weg miteinander zu gehen. Es muss immer wieder offen über die Dinge, die uns drei betreffen, gesprochen werden. Wilhelm legt größten Wert darauf, dass sich Robert hier in seinem Haus nicht in irgendeiner Form ausgebootet fühlt.
Wilhelm hatte schon in jungen Jahren die Idee gehabt, dass er mehr als eine Frau lieben könnte, weil die Liebe eine unendliche Ressource ist, die überall hinfließen können sollte. Seine Ehe hatte nie einen Exklusivitätsanspruch, auch nicht sexuell. Dennoch ist für Sabine die Situation nun schwierig, da Wilhelm noch nie zuvor eine so dauerhafte und bedeutsame Beziehung außerhalb seiner Ehe hatte, so sehr er es auch gewollt hätte. Paradoxerweise ist es für sie viel schwieriger als für Robert, der nie vor hatte so zu leben. Sabine verurteilt aber nicht Wilhelms Lebensweise, im Gegenteil, sie befürwortet dieses Konzept, auch wenn sie damit Schwierigkeiten hat.
Auch unsere erwachsenen Kinder haben die Veränderungen im Leben ihrer Eltern mit Gelassenheit quittiert. Ebenso wenig wie wir als Eltern Werturteile über das Leben unserer Kinder abgeben, haben auch sie gesagt, wir könnten ja leben wie wir wollen. Für unsere Kinder ist wichtig zu sehen, dass es nicht nur mir, sondern auch Robert gut geht dabei.
Sehr überraschend habe ich die Reaktion meiner damals 87jährigen Mutter gefunden. Als ich ihr davon erzählte, dass Robert und ich unsere Beziehungsvereinbarung verändert hätten, sagte sie sofort, dass würde sie eine gute Idee finden. Auf die Frage warum, sagte sie, sie hätte es gut gefunden, wenn mein Vater, der schon 1991 verstorben ist, eine Freundin neben ihr gehabt hätte. Er habe immer Sex gewollt und wenn sie da Unterstützung gehabt hätte, das hätte ihr gefallen. Einige Tage später, als ich meine Gedanken sortiert und meine Sprache wieder gefunden hatte, fragte ich bei ihr noch einmal nach. Ich wollte es noch einmal ganz genau hören: „Und du wärst wirklich nicht eifersüchtig gewesen?“ Sie entgegnete, nein, das wäre sie nicht gewesen, vorausgesetzt mein Vater hätte sie und seine Kinder nicht verlassen. Sex wäre für sie kein Problem gewesen in dieser Hinsicht. Augenzwinkernd fügte sie hinzu: “Dein Vater war aber zu faul sich eine Freundin zu suchen, dass hätte dann schon ich machen müssen!“ Also hatte er keine. Wilhelm und meine Mutter haben sich auch noch kennengelernt, bevor sie Anfang 2019 gestorben ist. Er hat ihr gefallen.
Ein eigentliches Coming-out gab es nur bezogen auf unsere Nachbarschaft. Diese habe ich aktiv in Einzelgesprächen mit den jeweiligen Frauen recht nüchtern und klar über die neue Situation bei uns informiert. Die Reaktionen waren gefasst, aber verwundert. Die Standardentgegnung war: „Für mich wäre das nichts.“ Was man hinter unserem Rücken dann unter Umständen noch gesagt hat, das weiß ich nicht. Offene Anfeindungen oder Kritik gab es nicht. Mir war einfach sehr wichtig, das Ansehen von Robert nicht beschädigt zu wissen. Niemand sollte denken, er würde hintergangen, wenn jemand mich und Wilhelm im Garten oder auf der Straße Hand in Hand sah. Ich wollte aber auch nichts aktiv geheim halten müssen, da das ja gerade nicht ins polyamore Denkkonzept passt. Es gab ja keinen Grund für Heimlichtuerei. Ich vermute durch diese Gespräche mit den Nachbarinnen habe ich einige spannende Diskussionen in den jeweiligen Ehen initiiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige unserer Bekannten und Nachbarn uns insgeheim bewundern. Aber es ist für sie ziemlich gefährliches Terrain uns das zu sagen, denn dann erfährt es auch der eigene Partner. Womit in der betreffenden Partnerschaft die Idee im Raum steht, dass man vielleicht auch Lust hätte so zu leben, sprich auf Sex außerhalb der Ehe. Und das hat Sprengkraft, auch in unseren modernen, toleranten, aufgeklärten Zeiten.
In meiner Herkunftsfamilie gibt es diesbezüglich eine interessante Begebenheit, die sicher auch gesellschaftliche Sprengkraft hatte, aber die Protagonisten hat das offenbar nicht gekümmert. Mein Onkel, Jahrgang 1913, ein Bruder meines Vaters, hatte zwei Frauen und lebte mit diesen unter einem Dach. Mit Anneliese war er seit 1952 verheiratet und mit Gerti nicht. Umso erstaunlicher war diese Konstellation, als dass er Schuldirektor war, bis er 1975 pensioniert wurde. Interessant finde ich dabei, dass ich als Kind nie auch nur eine Andeutung von Kritik durch meine Familie daran mitbekommen habe. Seine Frauen waren beide willkommen.
Vorzüge, Nachteile, Gründe, Grenzen
Die Polyamorie hat in meinem Leben viel Entwicklung ermöglicht, die ich auf keinen Fall missen möchte. Auch die Beziehung zu Robert ist dadurch belebt und bereichert worden. Ich habe durch meine Abenteuer mit Wilhelm viele Ideen und Impulse in unsere Beziehung gebracht.
Wilhelm ist ein ganz anderer Typ Mensch als Robert. Er hat sein Leben an ganz anderen Fixpunkten ausgerichtet. Mit Wilhelm ist alles ganz anders, nicht nur der Sex. Ich möchte damit nicht sagen, dass mit Wilhelm alles besser sei, nein, es ist anders. Weil Wilhelm mir ganz anders begegnet, erschließt sich mir ein neuer Resonanzraum für mein Ich. Dieser erweiterte Erfahrungshorizont ist es, der mir eine Quelle des Glücks ist.
Dazu habe ich ein konkretes Beispiel. Als ich mit Wilhelm anfangs unterwegs war und am Steuer meines Wohnmobils saß, hat er mich immer wieder dafür gelobt, wie gut ich dieses große Auto lenke, etwa durch die engen Altstadtstraßen. Und das war für mich eine völlig neue Situation. Mein Ehemann hat das nie gesagt und ich spürte immer seine Nervosität auf dem Beifahrersitz. Er hat mir nicht die Verantwortung übergeben, auch wenn ich am Steuer saß. Deshalb dachte ich viele Jahre lang, dass ich das einfach nicht gut kann. Seine Nervosität hat mich nervös gemacht und dann konnte ich keine gute Fahrerin sein. Mit Wilhelm neben mir wurde mir plötzlich klar: ich kann das!
Ich habe mich im Laufe meiner monoamoren Zeit oft gefragt, ob ich es wirklich gut finden würde, wenn mein Partner, die Eigenschaften hätte, die ich bei Robert manchmal vermisse. Zum Teil hat Wilhelm diese Eigenschaften und reagiert auf mich in bestimmten Situationen ganz anders als Robert. So bekam ich tatsächlich noch die Antwort auf meine Frage. Ja, es gefällt mir und auch hier erlebe ich persönliches Wachstum. Wilhelm lässt mich mit manchen Verhaltensweisen einfach nicht durchkommen und gibt mir Kontra. Das bedeutet nichts weniger, als dass sich mir auch hier ein neuer Resonanzraum öffnet, den es vorher nicht gab. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich darf mir auf neue Weise begegnen.
Was mir in der ersten Zeit zu schaffen gemacht hat, ist die Sehnsucht nach Wilhelm. Wir waren und sind ja räumlich weit voneinander entfernt im Alltag. Aber das gehört dazu. Sehnsucht ist eine sehr widersprüchliche Empfindung, sie ist schlimm und schön.
Natürlich gibt es auch immer wieder praktische Schwierigkeiten zu überwinden, Krankheiten, Unfälle mit schlimmen Verletzungen und Krankenhausaufenthalten, politische Entwicklungen, Zugausfälle, Terminschwierigkeiten in beiden Familien. Aber bis jetzt haben wir immer gute Lösungen gefunden. Engagement, Kreativität und Flexibilität ist gefragt.
Ich bereue es übrigens keineswegs so viele Jahre monoamor gelebt zu haben. Im Rückblick betrachte ich meine monoamore Zeit als das Bestmögliche unter diesen Umständen. Ich würde wieder so leben wollen, hätte ich es nochmal zu entscheiden. Es ist für die Lebensphase der Familiengründung und Kindererziehung von Vorteil, wenn Kontinuität und Ruhe im Familienverbund herrschen. Ich sage das bewusst im Zeitalter der Patchwork- und Regenbogenfamilien. Ich glaube unsere drei Kinder haben von dem ruhigen Fahrwasser, in dem unsere Ehe in dieser Zeit unterwegs gewesen ist, profitiert. Robert und ich waren in dieser Zeit nicht nur ein gutes Team, sondern unser Umgang miteinander war während des größten Teils dieser Zeit unterstützend, zugewandt und fürsorglich. Ich bin aber genauso froh darüber, dass ich, als diese Epoche unseres Lebens abgeschlossen war, wahrnehmen konnte, dass mir etwas fehlt und wir jetzt anders leben.
Die ersten Begegnungen mit Wilhelm waren voll von Unbekanntem, Neuem. Es waren und sind bis heute Augenblicke von großer Tiefe.
Aber genau solche Momente möchte ich in meinem Leben erleben dürfen. Es ist das, was Brigitte Halenta in ihrem gleichnamigen Roman als „die Breite der Zeit“ bezeichnet. (4) Ihre Protagonistin Henriette möchte „In der Breite der Zeit sich lustvoll ergehen, anstatt in ihrer Länge hinter Zielen herzuhasten, bis ihr die Zunge aus dem Hals hängt.“ Wer fest im tradierten monoamoren Konzept verhaftet ist, mag einwenden, dass ein solches Erleben ja nicht unbedingt in körperlichen Begegnungen mit anderen Menschen gefunden werden müsse, wenn man denn verheiratet ist. Doch wenn es um Treue geht, dann muss ich bei mir anfangen. Ich möchte mir selbst treu bleiben. Auch da gehe ich nicht fremd. Ich öffne mich für meine Wünsche und Sehnsüchte. Ich habe Bedürfnisse, die ich nicht verleugne, weil ich sie haben darf. Ich habe ein Liebespotential, eine Lust, die gelebt werden will. Erst wenn ich mir treu bin, kann ich auch Robert treu sein, weil ich nur dann wirklich bei ihm bin, nur dann kann ich mich jeden Tag wieder neu für ihn entscheiden. Ich glaube das ist es, was Robert gespürt hat: die Felicitas, die er vor so vielen Jahren unbedingt wollte, die ist so, sie ist voller neuer Ideen und strebt nach Wachstum. Sie schwimmt eben nicht immer mit dem Strom. Das hat ihm damals schon an mir gefallen. Sie ist, wie die Liebe selbst, sie will Grenzen ausloten und eventuell auch schauen was es dahinter zu entdecken gibt, sie ist ein Kind der Freiheit. Die Entdeckung, dass genau diese Felicitas nach über 30 Jahren noch da ist, hat ihm gefallen.
Oder anders gesagt: Ich bin der Liebe treu. Die Liebe ist frei. Frei von Erwartungen oder gar Forderungen und frei von Bedingungen. Wenn ich wesentliche Bedürfnisse von mir in der Beziehung zu Robert nicht leugnen muss, dann kann ich ihn aus mir selbst heraus lieben und fühle mich geliebt. Ich bleibe bei ihm, nicht obwohl ich nicht nur ihn liebe, sondern viel mehr deswegen. Natürlich gilt auch für ihn, dass ich ihn gelassen so sein lassen kann, wie er ist. Er muss nicht alle meine Wünsch und Bedürfnisse befriedigen. Für Robert spielt es keine Rolle mehr, wen ich sonst noch liebe, sondern nur, dass ich ihn liebe. Denn es geht um die Liebe, die einschließt und nicht ausschließt. Die Liebe würde nie sagen, du darfst diesen Menschen nicht lieben. Die Liebe ist eine grenzenlose Ressource. Was unsere Möglichkeiten begrenzt, ist die Endlichkeit anderer Ressourcen, wie etwa Zeit und Kraft. Ich persönlich bin der Ansicht mehr als zwei Partnerschaften kann ich nicht so führen, dass ich allen Partnern so gerecht werden kann, wie ich das möchte.
Eine Schwierigkeit für polyamor lebende Menschen ist die Partnersuche. Die meisten Menschen, die einen Partner suchen, legen natürlich das herkömmliche monoamore Konzept zugrunde. Sie suchen den einen Partner fürs Leben und keinen weiteren Partner bzw. keinen Partner, der schon anderweitig gebunden ist. Wobei ich den Eindruck habe, dass Männer diesbezüglich viel entspannter sind als Frauen. Frauen, die sich selbst als polyamor bezeichnen, wollen oft trotzdem keinen Partner, der schon eine Frau hat. Das habe ich bis heute nicht verstanden, wo da die Polyamorie sein soll.
Voraussetzungen
Wie kann das gehen mit zwei Männern und einer Frau?
Eine wichtige Voraussetzung ist gelingende Kommunikation.
Um sich wirklich aus einer 30jährigen monoamoren Beziehung in die Polyamorie aufzumachen, erfordert es eine exzellente Kommunikation. In meinen Augen ist das die notwendige Bedingung, um so leben zu können, und zwar so, dass es allen besser geht als im kleineren goldenen Käfig der Monoamorie. Das wiederum setzt ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus. Das bedeutet, dass jeder seine Empfindungen nicht nur kommunizieren können muss, sondern, was vielleicht noch schwieriger ist, er muss seine Empfindungen differenziert in sich wahrnehmen können, um sie aussprechen zu können. Mit differenziert meine ich, jeder muss unterscheiden können, was findet wirklich bei ihm selbst statt und was ist etwas, was er auf den anderen projiziert, was sind etwa Erwartungen seines Partners, die er nur annimmt, die aber vielleicht beim Partner gar nicht real vorhanden sind. Dies sind nur Andeutungen dessen, was eine gute Kommunikation leistet und was eine mangelhafte unter Umständen für Schwierigkeiten mit sich bringt. Diese Kommunikation ist bis heute eine der größten Herausforderungen meiner Beziehungen. Sie gelingt nur auf Basis von Vertrauen und ist die Grundlage für Verbindlichkeit, Ehrlichkeit und Einvernehmen. Wer das nicht miteinander kann, der sollte sich sehr gut überlegen, ob er in einer solchen Beziehungskonstellation leben will. Unsere Kommunikation ist mitunter so genau und gründlich, dass ich schon manches Mal gedacht habe, wer so miteinander im Austausch ist, der braucht keinen Therapeuten mehr. Wir klären bis auf den Grund. Das ist manchmal schwierig und anstrengend, aber im Ergebnis immer zielführend, um herauszufinden, wie wir miteinander leben wollen. Auch hier bieten sich Gelegenheiten für Wachstum.
Ein weiterer wichtiger Punkt für das Gelingen ist es, Regeln aufzustellen, damit jeder weiß, woran er ist. Polyamorie bedeutet ja nicht, jeder darf machen, was er will. Wir haben natürlich solche Regeln für unser Beziehungsleben. Dabei geht es um Gefühle, die berücksichtigt werden wollen, ebenso wie um Praktisches, also Organisation, wie in jeder Familie, etwa wer wann wo ist, mit welchem Auto. Es gibt auch Regelungen zum Thema Krankheitsverhütung. Da hier kaum Kontrolle möglich ist, ist Vertrauen notwendig, sowie Zuverlässigkeit und Konsequenz. Es gibt keine Ausnahmen für manche Dinge. Diese Regeln sind aber verhandelbar. Das wiederum setzt eine klare und reflektierte Kommunikation voraus. Die vereinbarte Fassung der Regeln ist dann aber verbindlich. Das ist aber überhaupt kein Problem bei uns.
Das, was ich und eventuell viele andere als große Schwierigkeit angesehen haben, nämlich nach so langer Zeit die Beziehung zu öffnen, hat sich aus meiner Sicht als genau das Gegenteil entpuppt. Diese lange Dauer unserer Verbindung, die lange gemeinsame Geschichte, war für Robert und mich eine gute und feste Grundlage für diese Entwicklung. Wir waren uns immer beide einig darüber, dass unsere Ehe in sehr vielen Bereichen unseres Lebens eine Erfolgsgeschichte ist, die wir beide nicht missen möchten. Eine Trennung würde keinerlei Probleme lösen, sondern viel mehr Schmerz durch den Verlust unserer Partnerschaft erzeugen. Wir brauchten und wollten Lösungen, keine Kapitulation.
Let’s talk about sex
Die fünf Jahre mit Wilhelm haben mich eine sexuelle Weiterentwicklung erleben lassen. Ich bin mir meiner Weiblichkeit bewusster und weiß, wie ich diese ausagieren will. Ich habe mich aus einem kleinen Tümpel der Lust hinausgewagt auf den Ozean. Leider muss ich heute konstatieren, dass Robert und ich sexuell nicht sehr gut zusammenpassen, trotzdem möchte ich den Sex mit ihm nicht missen, er tut uns beiden sehr gut. Die Erkenntnis, dass wir da nicht immer dasselbe wollen, ist aber nicht mehr so schlimm wie sie sein würde, wenn wir den Raum der Möglichkeiten nicht erweitert hätten. Und eines können wir, Robert und ich, mit großer Freude konstatieren: nämlich, dass wir unsere sexuelle Beziehung wiederbelebt haben und dass diese von meiner Abenteuerlust sehr profitiert hat. Ja, es steckt schon im Wort drin: wir sind jetzt erfahrene Profis im Bett, die mit allen Schwierigkeiten oder Herausforderungen souverän und liebevoll miteinander umgehen können. Auch hier wird immer wieder von Neuem gemeinsam nachgedacht, was uns beiden guttut. Das ist aber zugegebenermaßen eine der schwierigsten Aufgaben, die unsere Beziehung an uns heranträgt.
Ich muss auch zugeben, dass es verlockend ist zu vergleichen. Aber jeder Vergleich ist unsinnig. Robert ist Robert und Wilhelm ist Wilhelm.
Wilhelm hat diese Anteile von mir, die von Robert nie gesucht worden waren, angesprochen. Wilhelms Angebote hatten schon bei unserem ersten Treffen viel in mir geweckt, was schon immer dagewesen war, aber nie angesprochen wurde. Das Neue und das Wachstum, das ich erlebt habe, lag nicht nur in der Begegnung mit Wilhelm, sondern vor allem in meiner Begegnung mit mir, die damit einherging.
Exkurs
Wieso ist Sex eigentlich so wichtig?
In der sexuellen Begegnung, die von einem festen Vertrauensfundament in Liebe getragen wird, finden wir Momente von großer Tiefe, denn sie ist ein einzigartiger und seltener Augenblick, indem wir der existenziellen Vereinzelung entfliehen können. Solche Momente sind von großem erfüllendem Wert, da wir in ihnen beides gleichzeitig erleben: Die Erfüllung der Sehnsucht nach Vereinigung oder gar Verschmelzung vor dem Hintergrund der unerbittlichen Erkenntnis, dass wir letztlich allein sind. Diese Begrenztheit unserer Wesenseinheit, dieses Ich in uns, ist im Augenblick der innigen Vereinigung eins mit dem Gegenüber. Die Tragik der Erfahrung des Alleinseins löst sich auf, da dieses Alleinsein Voraussetzung für das Berauschende der Vereinigung ist. Nur die Tatsache, dass wir getrennt sind, ermöglicht die Vereinigung, denn das, was schon miteinander verschmolzen ist, könnte sich nicht mehr miteinander vereinigen. Die tiefe Erfüllung der Vereinigung ist nur durch das Getrenntsein erfahrbar.
Ich denke es ist die Qualität dieses Augenblicks, nach der wir uns sehnen. Ich habe diese Sehnsucht schon immer in mir gespürt, konnte sie aber nicht so analysieren und benennen als ich jung war. Es ist aber nicht nur eine Sehnsucht, sondern auch ein Potential zum persönlichen Wachstum. Was meine ich damit genau? Diese Sehnsucht ist die Motivation sich auf die Suche zu machen und sich und die Welt auf neue Weise zu betrachten und zu erkunden. Dies empfinde ich als so essenziellen Teil meines Seins, dass ich quasi in Panik geraten bin, als ich diese Sehnsucht in mir wieder spüren konnte, aber gleichzeitig erkannte, dass die Erfüllung im herkömmlichen Ehekonzept beschnitten wird, ja verunmöglicht wird. Sollte da etwas ungelebt bleiben? Warum eigentlich? Was würde die Liebe jetzt tun?
Exkurs Ende
Rendezvous mit der Liebe
Das führt mich auf die Anfangsfrage zurück: Was ist die Liebe? Darauf habe ich nicht eine Antwort. Wenn überhaupt, dann gibt es viele Antworten. Ich hatte es zu Beginn schon angerissen: ich halte die Liebe nicht nur für ein Gefühl, sondern auch für eine Haltung und eine Entscheidung. Liebe ist verwandt, aber nicht identisch mit Verliebtheit. In der Verliebtheit da gibt es nur Verschmelzung, das Anderssein des Gegenübers wird kaum wahrgenommen beziehungsweise glorifiziert. Die Vorsilbe „ver“ gibt uns einen Hinweis darauf das hier etwas „ver“loren geht, etwas „ver“rückt ist: Kontrolle, Urteilsvermögen, klarer Blick. Die Verliebtheit ergreift von uns Besitz, sie überfällt uns, ohne dass wir uns wehren könnten. Sie lässt alle Vernunft hinter sich und ist voller Großzügigkeit und Gnade unserem Liebesobjekt gegenüber. Es ist ein Geschenk, dass wir das können: durch alle vermeintlichen Defizite des Gegenübers hindurchsehen und einen Blick erhaschen von der liebenswerten Essenz eines Menschen. Sich zu verlieben ist, der Vorsilbe zum Trotz, kein Versagen, sondern ein Gewinn, wenn nicht eine Heldentat. Und nicht ohne Grund umschreibt die Bibel den sexuellen Akt als Erkennen, sich gegenseitig erkennen. Vielleicht könnte man ihn auf das Verliebtsein ausweiten, denn es knüpft an das an, was ich zu Beginn schon erwähnt hatte, nämlich an das Zitat von Dostojewski: „Einen Menschen zu lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“ Verliebtheit ist aber nicht von Dauer und die Frage ist entscheidend, was danach kommt. Diese unbewusste Gnade, die uns in der Verliebtheit so mühelos gelingt, in die Liebe hinüberzuretten, das ist die Kunst. Eine reife Liebe will den Partner nicht ändern, sondern erkennt das Andersseins des Geliebten an. Robert liebt mich. Er erkennt an, dass ich andere Bedürfnisse habe als er. Robert hat verstanden, dass ich mich nicht automatisch von ihm abwende, wenn ich mich zu jemand Weiterem hinwende. Ich glaube, dass ich mit meinem Bedürfnis nach Stetigkeit in der Beziehung einerseits und dem Freiheitsstreben andererseits, gar nichts Besonderes bin. Ich denke es ist eine tief verankerte Sehnsucht in allen Menschen. Wir suchen täglich die Ausgewogenheit zwischen Sicherheit und Freiheit. Das Verlangen nach Freiheit und das Verlangen nach Sicherheit sind gegenläufige Endpunkte auf der gleichen Achse. Mit Hilfe der Liebe gewinnen wir Bewegungsspielraum auf dieser Achse, da wir in der Liebe die Kausalität verlassen können. Die Liebe kann vermitteln zwischen dem egoistischen Motiv und dem altruistischen Motiv. Ich liebe dich, mit allem, was du mitbringst, auch wenn mir nicht alles gleich gut gefällt. Die Liebe will aber, dass du so sein darfst, wie du bist und dass es dir gut gehen möge.
Fazit/Resümee
Alles, was ich hier schildere, sind meine und unsere subjektiven Erfahrungen. Ein polyamores Leben ist erfüllt von viel Lebendigkeit, keine Frage. Im Alltag ist die Umsetzung des Liebesideals oft nicht leicht und ich behaupte nicht, dass uns das immer so gelingt, wie wir uns das wünschen würden. Den Partner so sein zu lassen, ohne dieses Sosein zu bewerten, ist im Alltag keine Kleinigkeit. Immer wieder tauchen neue Themen auf, die es zu bearbeiten gilt. Man könnte auch sagen die Theorie ist ein Ideal, das angestrebt wird, aber nie vollständig erreicht wird. Das gilt aber auch für monoamore Beziehungen. In jedem Fall gilt: ich muss mich aktiv und verantwortlich um meine Beziehungen und meine Partner kümmern. Was ich nicht selbst mache, wird höchstwahrscheinlich nicht geschehen. Doch mit diesem Ideal der Liebe im Hinterkopf, das beim Sex nicht Halt macht, leben Robert, Wilhelm und ich liebevoller und großzügiger miteinander. Wenn man die Treue loslässt, aber nicht die Liebe, dann erweitert sich der Pool der Lösungsmöglichkeiten für Beziehungsprobleme beträchtlich. Das Konzept hat sich für uns bewährt. Ich kenne allerdings niemand anderen, der so lebt. Auf den entsprechenden Webseiten oder Veranstaltungen höre ich meist nur von gescheiterten derartigen Beziehungen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das nur eine Verzerrung der Informationslage ist, also dass man über Probleme mehr berichtet als vom Erfolg. Andererseits sehe ich ja, dass es nicht leicht vollbracht ist sich jeden Tag aufs Neue für seine Partner zu entscheiden.
Zum Schluss möchte ich noch zwei kleine Anekdoten erzählen, die man sich nicht hätte ausdenken können. Wenn man so anders lebt als die Menschen es erwarten würden, entstehen manchmal skurrile Situationen.
Als Wilhelm von mir im Krankenhaus besucht wurde, aber Sabine aus Gründen, die sich jeder selbst denken darf, nicht zu ihm durfte, kam es zu einem ebenso kurzen wie kuriosen Dialog zwischen dem Stationsarzt und Wilhelm. Der Arzt sieht mich und ordnet die Situation richtig ein, also dass ich eine Partnerin von Wilhelm bin, und sagt zu Wilhelm „Ach, durfte ihre Frau doch rein?“ Wilhelm entgegnete trocken: „Nein, das ist meine Freundin.“ Der Arzt ist sichtlich irritiert und wechselt das Thema.
Aber am schönsten war die Szene am Flughafen. Als Wilhelm mich mal vom Flughafen abgeholt hat, sind wir von einer Schar junger Mädchen umringt worden (ein Junggesellinnenabschied wie wir bald herausfanden) und man fragte uns, ob wir verheiratet seien. Beide antworteten wir sofort und gleichzeitig. Er mit ja und ich mit nein! Beide hatten wir recht. Die Mädchen waren sichtlich verwirrt. Wir erklärten ihnen, dass wir beide Ehepartner zu Hause haben und unsere Beziehung im Einvernehmen mit unseren Ehepartnern besteht. Und dass wir schon lange verheiratet sind, 25 bzw. 30 Jahre. Sowas hatten die noch nie gehört! Und auf die Frage, was wir für einen Tipp hätten für eine lange, glückliche Ehe, sagte Wilhelm dann auch noch zufrieden grinsend, man solle sich als Mann eine Freundin anschaffen. Mit sowas hatten die Mädels sicher nicht gerechnet.
So soll mein Leben sein. Auch in solchen Situationen fühle ich die Breite der Zeit. Es sind Momente, an die ich mich mein Leben lang gern erinnern werde. Momente der Ewigkeit. Dafür bin ich dankbar.
Erstveröffentlichung im NACHHALL Nr. 29 https://nachhall.net/flw02